Samira, Friedemann und das Heer der Narrative

Weiter hierzu

2. Wir werden verzichten müssen und Dinge werden verboten – der Ikarus‐Plot

Verzicht! Verbote! Verzweiflung! Das Verzichtsnarrativ bespielt ausschließlich die Angst vor einer ungerechten Entmündigung, die zur Bewältigung der Krise angeblich nötig sei. Den Menschen soll wie Ikarus das göttliche Feuer wieder weggenommen werden, sprich: all der Wohlstand, den sie sich doch so hart verdient haben.

Ok, ich sehe die Idee ein, dass man die Geschichten einer einheimischen Kultur verwendet, den Ureinwohnern etwas so zu erklären, dass die es auch verstehen. Das setzt allerdings voraus, dass man das erstmal selbst versteht. Die Geschichte von Ikarus ist die hier. Schlüssige Deutungen:

  • hör auf Deinen Vater
  • hör auf den, der die Technologie erfunden hat, die Du gerade benutzt
  • Hochmut kommt vor dem Fall
  • göttliche Strafe (weil: Standarderklärung)

Als Metapher wurde Ikarus für den Sturz des „sozialistischen Heldentums“ und für die gescheiterte Karriere der Feministin und Anwältin Kempin-Spyri genommen. Ikarus wird nichts weggenommen, was er sich erarbeitet hat, kein Feuer, kein Wohlstand, kein Luxus.

Bei diesem Narrativ handelt es sich um eine Gruselgeschichte, die rationale Regulierungsansätze, wie sie in allen Politikfeldern ständig wirken, als dogmatisch übertriebene Gängelung anprangert.

Eigentlich nicht. Dädalus macht alles richtig und kommt heil an. Bzw., JA, es gibt Medien, die ständig vor Verboten und Verzicht warnen, aber es gibt auch Menschen, die genau Verbote und Verzicht fordern. Ungeachtet der Frage, was das mit Ikarus zu tun haben soll, ist das also kein Narrativ. (Höchstens in der Frage, wie viel Gängelung dahinter steckt. Aber hey Diskursfreiheit und so.)

Tragödien, Abstiegsgeschichten oder Erzählungen ohne Happy End dienen zur Abschreckung.

Ach, DAS soll das mit Ikarus zu tun haben? Warum nicht Orpheus – geht noch trauriger aus.

Wenn vermeintliche Verbote und Einschränkungen heraufbeschworen werden, werden der Staat, grüne Politikerinnen oder Aktivisten antagonisiert.

Irgendwas wird verboten werden müssen. Welche Verbote sinnvoll sind oder nicht, ist Diskussionsthema, aber die Verbote, die im Raum stehen, anzusprechen, kann kein Narrativ sein.

…wie Räuber in der Nacht, oder schlimmer noch, allzu gestrenge Eltern kommen und der Gesellschaft alles Schöne, Behagliche und Luxuriöse wegnehmen, sodass man zu einem freudlosen Eremitendasein gezwungen wird, entspricht der Angst vor dem Absturz…

Dasselbe Elternteil, das problemlos von Kreta zum Festland geflogen ist, war allzu gestreng? Aber ja, Fliegen dürfte zumindest sehr teuer werden, wenn man den Klimawandel ernst nimmt.

Und nun sollen wir nicht mehr so hoch steigen dürfen mit unseren selbst gebauten Flügeln, weil angeblich die Sonne zu heiß sein soll?

Die sind ja nicht selbst gebaut. Weder in echt noch in der Geschichte.

Natürlich dreht dieses Narrativ die Antagonistenrollen um

Der Antagonist in der Ikarus-Geschichte ist Minos, König von Kreta. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass dieselbe Wissenschaft und Technik, der wir unseren Wohlstand verdanken, auch schädlich ist, könnte man das noch halbwegs mit der Ikarus-Plotline in einklang bringen, aber nur das.

Ausgerechnet die Gandalfs und Hobbits werden damit zum bedrohlichen Sauron unseres kleinen modernen Auenlandes.

Das Narrativ hat andere Tücken. Aber nehmen wir den Ring mal als Metapher für Benzinmotoren, und der üble Einfluss des Ringes als Metapher für den Klimawandel, dann sind Leute, die auf Benziner nicht verzichten wollen, Gollum oder Boromir. Sauron wäre evt. der alte Benz, aber eigentlich ist er jemand, der den Klimawandel will.

Die Ein-Wort-Geschichten „Verzicht“ und „Verbot“ werden also inflationär verwendet

Jaaa, aber eben nicht nur aus narrativen Gründen.

Es ist bemerkenswert, wie sehr eine behauptete Einschränkung Menschen auf die Barrikaden locken und politische Energie kanalisieren kann.

Wenn schon behauptete Einschränkungen diese Wirkung haben, welche Wirkung haben dann tatsächliche Einschränkungen?

Plädieren Sie im Netz zum Beispiel für ein Tempolimit. Sie werden überrascht sein, wie sehr sich besonders deutsche Männer über die Freiheit, auf Autobahnen zu rasen, definieren.

Ich wäre nicht überrascht. Dass sich bspw. saudische Frauen nicht über die Freiheit definieren, auf Autobahnen zu rasen, ist ja wohl klar. Inwieweit ist das aber eine „behauptete“ Einschränkung? Eine Menge Menschen plädieren für genau DAS Verbot aus Klimaschutzgründen. Es ist also kein Narrativ.

Die Entfesselung auf der Autobahn scheint das wichtigste Elixier ihrer Heldenreise zu sein.

Ach, das ist natürlich Blödsinn – die meisten deutschen Männer befinden sich auf keiner Heldenreise. D’oh!

Regulierungen von Aspekten unseres Lebensstils, die identitätsstiftend sein können – meine Mobilität, meine Essgewohnheiten, meine Konsumvorlieben –, werden als Angriff auf die eigene Freiheit und somit als Angriff auf das Selbst empfunden.

Achwas? Welche Regulierungen denn sonst?

Das tribalistische Momentum greift, und wir nehmen Einschränkungen persönlich.

Entweder, das tribalistische Momentum greift, dann ist es nicht persönlich, sondern gegen meine Gruppe, oder ICH nehme etwas persönlich, dann hat das nichts mit meiner Gruppe zu tun. Aber ja, niemand will gerne reguliert werden.

Diese Erzählung zeigt aber auch sehr gut den narrativen Hebel, den man nutzen könnte, um Menschen von der Wichtigkeit klimapolitischen Handelns zu überzeugen: das Persönlichnehmen.

Der Klimawandel ist unpersönlich. Sauron mag was gegen bestimmte Personen mehr haben als gegen andere, aber mir ist klar, dass die Klimawandel keine Absicht haben kann, die er verfolgt.

Wir müssen von den Einschränkungen für alle von uns erzählen, die eine Klimakatastrophe mit sich bringt. Wir müssen die wahren Antagonisten – raffgierige Konzerne, verantwortungslose Politikerinnen, gekaufte Wissenschaftler – klar benennen und auch ihr Vergehen:

Konzerne, bei denen ich persönlich einkaufe? Politiker, die zumindest die meisten von uns gewählt haben? Egal, die kriegen erstmal eine aufs MAUL! PERSÖNLICH! RAAAARRRRR! Persönlichnehmen ist der neuste heiße Scheiß.

Raubbau an unserem gemeinsamen wertvollsten Gut – der Erde.

In der Formulierung lügt man sich selbst in die Tasche. Abgesehen davon, dass „die Erde“ ein Himmelskörper ist, dem es egal sein kann, wie warm es auf seiner Oberfläche ist. Aber „wir“ sind die Ausbeuter. Es gibt in der Form kein „wir“ gegen „die“.

Jedes abgeschaltete Kohlekraftwerk, jedes neu gebaute Windrad muss zu einem gefeierten Meilenstein auf der Heldenreise der Vernünftigen werden.

Heldenreisen machen nur die wenigsten. „Heldenreise“ ist einfach nur ein weiteres Narrativ, dass das andere ersetzen soll. Und einfach keine Narrative mehr zu verwenden, geht nicht, weil Menschen zu doof sind. Dann gibt es keine Heldenreisen der Vernünftigen.

Schon der Begriff „Vernunft“ muss zurückerobert werden von den Politikern, die faule Kompromisse als vernünftig verkaufen, die das Auto also in der Mitte der Straße steuern.

Genau! Auf in den Kampf, mich juckt die Säbelspitze. Krieg! Eroberung! Vernunft!!!

Erst diese protagonistisch-protestierende Haltung vieler schafft ein mobilisierendes Gefühl von politischer Betroffenheit wie Selbstwirksamkeit – nicht zuletzt, weil man sich dank ihr als Widerständler inszenieren kann.

Ich glaube, sie meinen „persönliche Betroffenheit“ statt politischer. Aber hey, wenn sich irgendwelche Terroristen als Widerständler inszenieren können, dann können wir das erst Recht! Nieder mit den Harkonnen! Und der Ersten Ordnung! Und mit Daenerys!

Die Masterplots der Rettung, der Underdogs, der Metamorphose – sie erlauben uns die Erzählung einer fruchtbaren Rebellion: einmal Frodo sein und Held der eigenen Geschichte bleiben.

Wie uns die postmoderne Pop-Kultur am Beispiel von TLOU II zeigt, ist jeder Held der Schurke in der Geschichte eines anderen. Also zum Beispiel ist jeder Jude der Schurke in der Geschichte eines Nazis. Oder eine bisexuelle, unbewaffnete, schwangere Jüdin im Fall von Abbie. Bzw., das war nur die Nebenschurkin. Jedenfalls, wenn jeder Held der Schurke von jemand anderes sein kann, ist jeder Schurke der Held in seiner eigenen Geschichte. Und die ganzen Narrative sind sinnlos, weil man sich das aussuchen kann, was einem am besten passt. Ansonsten: Wisst Ihr noch, wie alle „hier“ riefen, nachdem Frodo sich freiwillig für das Himmelsfahrtkommando gemeldet hatte? Die allermeisten Menschen wollen nicht Frodo sein.

3. Hedonismus ist gleich Freiheit – die Aschenputtel‐Geschichte

Aschenputtel ist keine Hedonistin. Aschenputtel will einfach nur genauso viel Spaß und Glück im Leben wie andere Leute auch. Also, wie andere Leute haben, nicht, wie andere Leute wollen.

Erst durch Selbstentfaltung, so erzählt es diese Geschichte, erlangt der mündige Bürger die Freiheit, die ihm zusteht. Hedonismus wird damit der David-Kampf des kleinen Mannes gegen einen Goliath aus monströsen Klimafakten.

Ähh, nein? Erst durch Freiheit, kann man sich selbst entfalten. Und dadurch z.B. hedonistisch werden. Hobbits haben gerne mehrere warme Mahlzeiten am Tag. Wenn sie sie bekommen können.

Im Grunde haben wir es hier mit einer Umkehrung des Verzichtsdiskurses zu tun.

Na, sowas. Wie konnte das nur passieren? WIE???

Anhänger dieses Narrativs glauben, dass sie sich ihr Dasein irgendwie verdient haben, zum Beispiel durch Arbeit und Fleiß, weshalb das Leben, das sie gegenwärtig führen, nicht falsch sein kann.

Ja, die Idee, dass man sich seine Existenz verdienen muss, ist natürlich bescheuert. Wie soll man das machen, bevor man geboren ist? Ungeachtet dessen, wenn man sein Auto bezahlt hat, besitzt man es und hat das Recht, es zu benutzen.

(Selbst-)Gerechtigkeitserzählung, die unser Gefühl, uns stünden Ressourcen und Umwelt schlicht zu, auf eine Weise narrativiert, die uns im Destruktiven, im Verschwenderischen Held sein lässt.

Die meisten von denen, die gegen Klimaschutz sind, argumentieren anders. Sie sagen nicht, dass sie verschwenderisch sind, sie sagen, dass das Fehlen von Vorschriften Freiheit ist. Was jetzt irgendwie schon nicht so ganz unbegründet ist.

Der US-amerikanische Psychologe Peter Kahn benutzt den Begriff der „environmental, generational amnesia“, also der „Umwelt-Amnesie der Generationen“. Danach betrachtet jede Generation den Zustand der Umwelt, mit welcher sie aufgewachsen ist, als den Normalzustand, unabhängig davon, wie verschmutzt sie ist.

In meiner Jugend waren saurer Regen, Dünnsäureverklappung und Ozonloch wichtige Themen. In der Jugend meiner Eltern war ein Fluss in der Nähe eine Industriekloake, der heute Naherholungsgebiet ist. Wenn es sich so anfühlt, dass es besser wird, ist das insofern nur halb gefühlt. Allerdings sind eine Menge ausgestorbener Tiere immer noch ausgestorben, von daher…

„Es gibt eine sich ändernde Grundlinie dessen, was wir als die Umwelt betrachten, und da diese Grundlinie verarmt, sehen wir sie nicht einmal“, meint Kahn.

…sollte man sich nicht auf Gefühle oder das bloße Auge verlassen. Das ist genau das, was Wissenschaft ausmacht.

In dieser Wahrnehmungsverzerrung wird auch das eigene Verhalten zum selbstverständlichen Nullpunkt, den man nicht nur bewahren will, sondern verteidigen muss.

Das ist möglicherweise tatsächlich eine Wahrnehmungsverzerrung, aber eine völlig andere.

Ein Narrativ, das das maximale Genießen persönlicher Freiheiten trotz eines nahenden Kollapses des globalen Ökosystems als erstrebenswert und richtig verkauft, wirkt darum paradoxerweise besonders attraktiv.

Ok, folgende Narrative:

Kirche sagt: Du darfst höchstens einen Sexualpartner haben, sonst bist Du des Teufels.

Koran sagt: Du darfst keinen Alkohol und kein Schweinefleisch konsumieren, denn Gott will das nicht.

Kommunismus sagt: Du darfst keine Südfrüchte essen oder gescheite Autos fahren, weil das dem Klassenfeind hilft.

Warum kommt niemand auf die Idee, den Leuten nur das zu verbieten, was sowieso keinen Spaß macht? Endlich eine Diktatur, die jeder liebt!

Jedenfalls ist jedes Narrativ, das alles erlaubt, was Spaß macht, attraktiv.

Aber, wer kennt nicht die Version von Aschenputtel, wo die am Ende massenhaft Kerle aufreißt, Alkohol vernichtet, Schnitzel verdrückt, Bananen isst und mit dem Porsche durch die Gegend cruist?

Mal von den komischen Namen abgesehen, von der Beschreibung her sind das schon Einwände gegen Klimapolitik, die vorkommen: man will keine Verbote und auf nichts verzichten. Außerdem gibt es Überschneidungen mit dem 1. Narrativ, wonach Umweltschutz arbeitsplatzfeindlich sei. (Meine Formulierung, nicht deren.) Jetzt sind diese sogenannten Narrative  aber tatsächlich evidenzbasiert. Wenn man bspw. aus Klimaschutzgründen (und Umweltschutzgründen, Arbeitsschutzgründen und Tierschutzgründen) gegen Massentierhaltung ist, oder Tierhaltung grundsätzlich, dann würde man entweder Fleischverzehr komplett verbieten oder durch Auflagen und Abgaben und Steuern so teuer machen, dass sich  einerseits artgerechte Haltung lohnt, und andererseits viel weniger konsumiert wird. Und ggfs. auf Ersatzprodukte ausgewichen wird. (Oder, man ändert gar nichts, was die Haltung der Gegner wäre.)

Ungeachtet der Frage, wie ich persönlich dazu stehe, stelle ich fest:

  • weniger Massentierhaltung, aber mehr „Biotierhaltung“ reduziert evt. nicht die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, da letztere deutlich personalintensiver ist, das Ökologie-vs.-Ökonomie-Klischee wird hier also umgangen.
  • weniger Fleischkonsum reduziert aber definitiv Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie, die vermutlich nicht durch solche in der pflanzenverarbeitenden Industrie ersetzt werden. Sägespäne zu Schnitzel pressen ist fast vollautomatisch.
  • wenn Fleischverarbeitung aber keine Fabriken mehr benötigt, lohnt es sich aber möglicherweise auch nicht mehr, billige ausgebeutete Osteuropäer heranzuholen, sondern die drei Fleischer, die man noch braucht, sind Einheimische, was sogar für den Wirtschaftsstandort gut wäre.
  • Verzicht auf Fleisch wäre Verzicht. Sei er freiwillig oder per Geldbörse erzwungen.
  • Verbot von Fleisch wäre ein Verbot, offensichtlich.
  • wenn Fleisch einfach nur teurer, aber noch erschwinglich wird, wäre das eine Einschränkung. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob der Mangel an Südfrüchten oder Trabbis wirklich das allerschlimmste war, was den DDR-Bürgern angetan wurde, aber dann ist das nur eine weniger harte Einschränkung, eine Einschränkung ist es so oder so.

Jedenfalls sind diese drei „Narrative“ nicht nur die Argumentationslinien der Gegner, auch Menschen, die ernsthaft für eine andere Art der Ernährung plädieren wollen, werden diese Punkte ansprechen müssen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s