Die wunderbare Welt der catch-22

Hachja.

TAUSENDMAL IST NICHTS PASSIERT

In Hinblick auf den Ursprung dieser Zeile ist die Wahl dieser Überschrift natürlich auch Främing. Wenn Leute sich ineinander verlieben, die sich schon ewig kennen, ist das nämlich verdächtig, denn:

Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln Themen wie sexualisierte Gewalt, MeToo und Victim Blaming.

Inhalte, die mit einer Refrain-Zeile einem Lied übers Verlieben betitelt werden. Sexpositivität ist was anderes. Aber ja, #MeToo. PTBS!

Der Frühling ist da, die Tage werden wärmer und die Festivalsaison hat begonnen.

„Wir wollten tanzen geh’n“, jaja.

Das heißt für 2024, dass auch die Band Rammstein wieder auf Tour gehen.

Die Band ist Singular. Also geht sie auf Tour. Sprache formt die Wirklichkeit und das Bewusstsein, woll?

Rammstein, war da nicht mal was? Übergriffe, Machtmissbrauch, regelrechtes Opfercasting? 

Mir schwant da was… Genau.

Row Zero, zahlreiche Vorwürfe, Aussagen von Festivalmitarbeitenden und derlei mehr?

Wenn niemand zur Polizei geht, ermittelt diese nur, weil sie in der Zeitung davon liest. Wenn niemand – Opfer, Zeugin oder auch männlicher Zeuge – trotz des massiven Medienechos, das Pickert hier „gekonnt“ ignoriert, zur Polizei geht, ist das kaum noch dadurch zu erklären, dass die alle Angst vor Rammstein hätten.

Und hatte man sich nicht sogar band-intern ein „ruhiges, besonnenes Reflektieren und Aufarbeiten“ und „auch keinesfalls Victim-Blaming“ gewünscht, weil man die „persönlich nicht in Ordnung fand“?

Angenommen, dieses Aufarbeiten habe stattgefunden? Wenn Pickert mit dem Ergebnis unzufrieden ist, weil es seinen Erwartungen nicht entspricht, ist das sein gutes Recht, aber das kann kein Argument sein zu sagen, dass das nicht passiert sei…

Später schaut man dann noch auf dem Knotfest der Band Slipknot vorbei. Und während sich einige Fans von Slipknot in den Kommentaren zur Ankündigung fragen, warum Till Lindemann supportet wird, der auch als Einzelkünstler auftreten wird, und wieso immer alle von Cancel Culture reden, während Lindemann weiter auf riesigen Bühnen auftreten darf, geht es weiter, immer weiter.

Wenn mir jemand sagt, dass es keine Cancel Culture gäbe, und dann kritisiert, dass Leute Dinge tun, die Cancel Culture verhindern würde, heißt das für mich „leider“: „Leider gibt es keine Cancel Culture, sonst würde Lindemann da nicht auftreten.“ Was im Umkehrschluss heißt, dass die „Leider“-Meiner eine Cancel Culture installieren würden, wenn sie könnten. Oder, sie beklagen, dass die Cancel Culture schlecht funktioniert…

Fans kaufen Tickets und sehen die Show, die ja weitergehen muss.

Ja, Fans sind schuld. Wenn die das Knotfestival boykottieren würden, würden die beim nächsten Mal Lindemann can nicht mehr einladen. Oder ohne Sarkasmus: ich bin schon der Ansicht, dass Pickert hier Rammstein-Fans kritisiert, und zwar fürs Rammstein-Fan-sein. Was jetzt nicht ganz so unfair ist wie andere Pauschal-Urteile, aber andererseits ist Lindemann weiterhin ein unbescholtener Bürger – wem schulden Fans, dass sie aufhören, Fans zu sein?

Der Produzent Timbaland empfiehlt uns mit Blick auf den verurteilten Sexualstraftäter und Menschenhändler R. Kelly, „die Musik und das Persönliche nicht zu vermischen

Niemand wäre gezwungen, dieser Empfehlung zu folgen. Aber anders gefragt, soll man einen verurteilten Verbrecher genauso behandeln wie jemanden, bei dem es nie zu einer Anklage kam. Aus Gründen, die kaum seine Schuld wären, weil Lindemann nicht den Hebel hätte, alle Frauen, die zur Presse gingen, davon abzuhalten, auch zur Polizei zu gehen.

Dessen Verteidiger hatte zuvor im Prozess derartig auffällig eine Verbindung zwischen dem Twerking der Opfer auf Konzerten und Musikevents und den Taten seinen Mandanten herstellen wollen, dass er von der vorsitzenden Richterin aufgefordert wurde, in der Gegenwart anzukommen und das zu unterlassen.

Das Argument HIER wäre weniger, dass Kelly keine Impulskontrolle hätte, sondern mehr, dass das nach konkludenter Zustimmung aussähe. So ähnlich, wie jemand, der oder die auf einer Auktion den Arm hoch hebt, ein Gebot abgibt, auch, wenn soe wen grüßen wollte. Das Gegenargument wäre natürlich, dass Twerken nicht nur nicht notwendigerweise Einverständnis zum Sex bedeutet, sondern auch, dass dieses Einverständnis, so vorhanden, nicht zwingend für alle Anwesenden gelten würde.

Aber genau um die konstante Vermischung dieser Themen, um das Ausgrauen dieses Bereiches in „Wer weiß schon, was da genau passiert ist, wieso gehen die Frauen überhaupt in solche Konzerte und zu solchen Typen?“ geht es ja.

Wer über zwei unterschiedliche Personen, die mWn nichts weiter miteinander zu tun haben, als das sie (unterschiedliche) Musik machen, gleichzeitig diskutieren möchte, sollte sich nicht über „ausgrauen“ beschweren. Man kann Kelly boykottieren und Rammstein hören, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.

Auch bei dem Rapper und Produzenten Sean „Diddy“ Combs, wird diese Maschen gefahren.

Und der kommt immerhin vom selben Kontinent wie R. Kelly, sogar aus demselben Land. UND hat dieselbe Hautfarbe. Wenn Kelly schuldig ist, kann man sich den Prozess über Combs glatt sparen. Aber nein, man stellt Fragen…

Warum erst jetzt?
Warum hat sie sich nicht gewehrt?
Warum unterzeichnet sie eine Verschwiegenheitserklärung?
Warum lässt sie sich von ihm produzieren/mit ihm ein?

Das sind alles legitime Fragen, die nicht rhetorisch sind. Bzw., wenn sie doch so gemeint sind, kann man sie trotzdem unrhetorisch beantworten, also trifft der Vorwurf daneben.

Es ist unfassbar traurig und beschämend, aber auch und gerade 2024 muss das offenbar klargestellt werden: Weil sie es dürfen!

Und Lindemann darf Konzerte geben. Sofern er die finanzieren kann. Die Fragen bestreiten nicht, dass besagte Frauen das dürfen, sondern zielen darauf ab, warum sie nicht andere Dinge getan haben, die ihren Interessen (und potentiell den Interessen anderer Opfer) deutlich mehr gedient hätten.

Frauen dürfen erlittene sexualisierte Gewalt verdrängen, verschweigen, nie thematisieren oder auch zu einem Zeitpunkt aufbringen, der ihnen aus welchen Gründen auch immer geeignet erscheint.

Ja, aber das führt dann dazu, dass der Täter straffrei ausgeht, oder jedenfalls jahrelang weitere Opfer findet, und DAS kann man schon kritisieren. Außerdem, wenn Opfer dieses Recht in Anspruch nehmen, ist es nicht meine Schuld – oder die der Gesellschaft – wenn Täter jahrelang rumlaufen. (Und die Möglichkeit, dass der Vorwurf gar nicht stimmt, sei mal jedenfalls angedacht…)

Frauen müssen sich nicht gegen Übergriffe zur Wehr setzen. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, sich nicht vergewaltigen zu lassen, sondern ihr Recht keine Gewalt zu erfahren.

Ja, Gegenwehr ohne Aussicht auf Erfolg ist nicht „vorgeschrieben“. Dessenungeachtet ist es auch hier legitim, das genaue Tatgeschehen abzufragen.

Frauen dürfen sich unter Druck gesetzt fühlen, vor langwierigen Prozessen fürchten und jeden Ausweg nutzen, der legal ist und ihnen sinnvoll erscheint.

Juristisch formuliert ist das wohl zutreffend, aber dann kann sich eine Frau, die einen „Ausweg“ sucht, sich nicht mehr berechtigterweise beschweren, wenn „ihr“ Täter nicht bestraft wird. Außerdem würde ich mal sehr pauschal bestreiten, ob es außerhalb des Rechtsweges „sinnvolle“ Wege gibt, was Straftaten betrifft.

Es ist nicht ihre Aufgabe, einen Täter hinter Gitter zu bringen.

Tatsächlich ist das die Aufgabe des Rechtsstaates, aber wenn der aus Gründen, die ihrer Kontrolle unterliegen, den Täter nicht hinter Gitter bringen kann, ist das nicht das Versagen des Rechtsstaates.

Es wäre unser aller Aufgabe gewesen, sie besser zu schützen.

Nein. Es ist nicht meine Aufgabe, Menschen vor R. Kelly zu beschützen. Oder auf Rammstein-Konzerten nach verdächtigen Vorgängen zu fahnden.

Frauen dürfen sich protegieren lassen. Sie dürfen hoffen, mit ihrem Talent durch die Hilfe von mächtigen und einflussreichen Männern Karriere zu machen.

Die Vermutung oder Unterstellung ist, dass es eben nicht ihr Talent sei, sondern sexuelle Gefälligkeiten.

Sie markieren sich damit nicht als „missbrauchbar“. Sie geben sich dadurch nicht selbst zur Vergewaltigung frei.

Die Vermutung bzw. Unterstellung wäre, dass das demnach einvernehmlicher Sex gewesen sei. Man kann natürlich auch zum Sex erpresst werden, was die Sache noch einen Tacken komplizierte macht, aber nun…

Bei allem Verständnis für die Schwierigkeit, die in einem MeToo-Kontext erhobenen Vorwürfe juristischen vollständig abzubilden und aufzuarbeiten

Verständnis? Verständnis?!? Wovon redet er denn jetzt? Er hat doch noch nie irgendwelches Verständnis für juristische Schwierigkeiten gezeigt.

Auf allen Ebenen wird hier Frauen als Opfern von sexualisierter Gewalt vermittelt, dass sie ja irgendwie auch ein bisschen selbst schuld sind.

Selbst in Fällen, wo keine sexuelle Gewalt stattfand? Ist jetzt etwas unlogisch.

Dass sie nicht so tanzen dürfen, wie sie wollen, und nicht zu Konzerten gehen sollten.

Frauen sollen zu Rammsteinkonzerten gehen, wenn sie wollen, und dort tanzen, wie sie wollen, aber alle, die Rammsteinkonzerte besuchen (bzw. dafür GELD ausgeben), helfen Lindemann und sind insofern schlechte Menschen. Such es Euch aus.

Sie dürfen sich nicht protegieren lassen.

Natürlich dürfen sie. Sie dürfen dann auch Anzeige wegen Vergewaltigung erheben. Die Frage ist nach der Sinnhaftigkeit, nicht nach der Rechtmäßigkeit. (Wobei, Vorteilsnahme und so…)

Nicht schweigen, nicht aufschreien, nicht verzögern, nicht fordern.

Dürfen schon. Aber wenn sie das gleichzeitig tun, ist das kontraproduktiv, und das darf man dann umgekehrt auch dahingehend kritisieren.

Übrigens auch nicht aussagen. Ein New Yorker Urteil gegen Harvey Weinstein…

Ja, genau. Angenommen, ein Mann vergewaltigt jedes Jahr eine Frau. Bei der 23. käme es zum Prozess, aber weil die Verjährungsfrist 15 Jahre beträge, können die ersten acht leider keine Klage mehr erheben. Jetzt sagt der Staatsanwalt, dass er die ersten acht trotzdem vorladen will, aber als Zeuginnen, auch wenn die mit Opfer #23 nichts zu tun haben, um die kriminelle Energie dieses Mannes zu belegen. Klar soweit? Ok, was hätte der Staatsanwalt gemacht, wenn schon die 5. Frau zur Polizei gegangen wäre, und er keine ACHT andere Opfer als Zeuginnen/Nebenklägerinnen hätte vorweisen können, sondern „nur“ vier? Ein Schuldspruch muss prinzipiell auch anders möglich sein, und zwar schon beim allerersten Opfer.

Damit wollte sich das Gericht ein umfassendes Bild über die Missbrauchsmethode Weinsteins machen.

Weinsteins Missbrauchsmethoden Raketenwissenschaft einfach.

Da aber Angeklagte ausschließlich mit Blick auf die ihnen vorgeworfenen Taten beurteilt werden dürfen, wurde der Prozess für fehlerhaft befunden.

Sie auch hier, hier und hier. Wie gesagt, es kann nicht prozessentscheidend sein; es wäre etwas anderes, wenn die Zeuginnen mal selbst vor Gericht gezogen wären und es da zu einem Urteil gekommen wäre, weil Weinstein dann einschlägig vorbestraft wäre oder gar keine weiteren Taten hätte begehen können.

Auch wenn das juristisch durchaus folgerichtig sein mag, bleiben wir den Opfern sexualisierter Gewalt gesellschaftlich, juristisch, gemeinschaftlich und juristisch die Antwort auf die wichtigsten Fragen schuldig:

Wer ist „wir“? Was ist der Unterschied zwischen „gesellschaftlich“ und „gemeinschaftlich“? Und der zwischen „juristisch“ und „juristisch“? Aber ja, LISTE, yäy!

Was soll ich denn jetzt machen?

Zur Polizei gehen.

Wie soll ich mich verhalten, wie kann ich dafür sorgen, dass mir geholfen wird und ich Gerechtigkeit erfahre?

Zur Polizei gehen, Strafanzeige stellen, ggfs. einen Anwalt suchen, der sich mit Nebenklägerinnen auskennt, damit insbesondere nicht so lange warten, weil die Zeit dem Täter hilft.

Die „Antwort“ darauf lautet seit Jahr und Tag: So nicht!

Man sieht ja, was es brachte.

Nicht in diesem Aufzug, nicht nach so langer Zeit, nicht mit dieser Aussage, nicht mit so viel oder so wenig Geld, nicht mit dieser oder jeder anderen Vorgeschichte.

All das war bei Rammstein bspw. kein Thema. Außer Geld, aber das war der Vorwurf gegen Rammstein, mit Unterlassungsklagen zu drohen, um die Berichterstattung zu unterbinden. (Wobei, wenn man nicht zum Spiegel geht, sondern zur Polizei, hat es sich mit Unterlassungsklagen…)

Nicht, wenn du vorher mit dem Täter einvernehmlichen Sex hattest.

Auch, wenn ich jemanden Geld schenke, kann er mich später noch beklauen.

Nicht, wenn du vorher mit „vielen“ anderen Männern Sex hattest. Nicht, wenn du nach der Tat Sex hattest. Nicht, nicht, nicht, nein, nein, nein, so nicht!

Sind das Argumente in den Medien oder vor Gericht?

Wenn wir nicht endlich anfangen, potenziellen Opfern brauchbare Mittel zum Umgang mit mutmaßlichen Taten an die Hand zu geben, wird wieder tausendmal nichts passieren – nachdem es passiert ist.

Wenn Frauen in der Rammstein-Sache nicht zur Polizei gehen – mit einer Ausnahme, die dann aus Gründen verworfen wurde, die eher nicht mit ihrem Äußeren zu tun hatte – kann der Vorwurf nicht sein, dass es keine brauchbaren Mittel gibt.

Bis dahin sind Rammstein auf Europatournee, die Musik von R. Kelly gilt weiterhin als super, und Frauen, die sich gegen die Übergriffe mächtiger Männer wehren, gelten nach wie vor als „Gold Digger“, die „nur Karriere machen wollen“.

Nicht die Leute, die R. Kellys Musik mögen, sind das Problem. Oder die Rammsteinfans. Es ist R. Kelly das Problem. Rammstein hat nichts illegales gemacht, soweit man weiß, es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben, Anzeige zu erstatten, das ist nicht passiert; nebenbei soll die Existenz der „Row 0“ schon einem größeren Teil des Rammsteinpublikums bekannt gewesen sein, dieses hat also durch die Medien keine neuen Informationen erhalten, die ihre Einstellung hätte überdenken lassen.

Konsequenzen für Rammstein: Ist ein deutschland- und österreichweites Bündnis, das sich vernetzt hat, weil Rammstein (und mit ihnen Till Lindemann) trotz schwerer Vorwürfe sexualisierter Gewalt ohne Konsequenzen auf Tour gehen.

Also dafür, dass es doch jetzt bitteschön mal endlich eine Cancel Culture geben möge, die diesen Namen auch verdient!

Gefordert wird eine juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Vorwürfe.

Also juristisch scheint das Thema ja durch zu sein. Aber ja, Row 0 verbieten einfach! Ist etwas spießig, aber wenn Ihr meint…

der Instagram Account des Bündnisses gibt Menschen eine Stimme, die gegen Rammstein laut sein möchten.

Gut, dass es Insta gibt. Welt so viel besser damit!

Awareness-Institut: Die Anlaufstellen des Projekts sollen Awareness Kulturräume angenehmer und sicherer für alle machen.

Vom komischen Namen abgesehen klingt das nach einer guten Idee. Aber natürlich wird „man“ dagegen sein, dass die ein Rammsteinkonzert mit ihrer Anwesenheit zum „Safespace“ adeln.

Darüber hinaus soll die Entwicklung von Präventivkonzepten durch Bildungsangebote für Clubs und Veranstalter*innen gefördert werden.

Männerschutzhäuser fehlen übrigens noch immer.

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