Canceln boykottieren!

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Den Ausdruck „Cancel-Culture“ hören wir inzwischen überall. Aber was bedeutet er und was steckt wirklich hinter der „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“-Empörung?

„Cancel-Culture“ ist nicht dasselbe wie „Man darf ja gar nichts mehr sagen.“ Bzw., beim Canceln geht es darum, dass Promis angeblich oder tatsächlich durch „canceln“ oder „deflatforming“ aus ihrer prominenten Position entfernt werden würden, weil sie „politisch unkorrekte“ Wörter verwendeten oder solche Meinungen verträten oder – die Definition ist nicht ganz einheitlich – etwas falsches getan hätten. Wie Lindemanns Reihe Null. Nichts mehr sagen bezieht sich u.a. darauf, dass das anderere Wort für Schaumkuss nicht mehr verwendet werden soll, weil es beleidigend (gemeint) sei, und nicht, weil es die inzwischen auch in weiß gäbe.

Schenkelklopfer, höhöhö und uiuiui: Wer in den 1980ern und 1990ern aufgewachsen ist, hat von Onkel Günther & Co fast täglich unerträgliche Witze und Sprüche gehört, in denen marginalisierte Gruppen diskriminiert und beleidigt wurden.

Es ist ein Unterschied, ob jemand diskriminiert wird oder beleidigt, und für beides braucht man eigentlich keine Witze, aber ja, solche Dinge habe ich auch mitbekommen, wenn auch nicht gerade täglich. Oder wöchentlich. Aber ja, kenne ich.

Ein Glück, dass das wenigstens ein kleines bisschen besser geworden ist.

Das sehen aber nicht alle so.

Ähh, wenn es mal „täglich“ gewesen sein sollte, ist es SEHR viel besser geworden. Dessenungeachtet:

Die Moderatorin Sarah Kuttner zum Beispiel … hatte sich in einem Podcast darüber beschwert, dass man ja das N-Wort gar nicht mehr sagen dürfe – und es dabei mehrfach gesagt.

Ja. Wenn ich aus Protest gegen ein angebliches Verbot dieses breche, und mir passiert nichts, ist das Verbot entweder eingebildet, oder ich profitiere von meinem Promi-Bonus. (Nebenbei weiß ich nicht, was Kuttner meinte – das N-Wort, dass sich auf Fliesenleger reimt, oder das, was sich auf Trigger reimt?)

Ihr Argument: Es darf nicht sein, dass man nicht mehr alles sagen darf und wer das N-Wort liest oder sagt, wisse ja eh, was gemeint ist.

Ja, aber offenbar nein. Ist aber nebensächlich, weil es mindestens zwei Sachverhalte gibt: ich nenne einen gewählten Politiker „Volksverräter“, was offenbar eine Beleidigung ist, oder ich sage oder schreibe „Volksverräter“, was wegen der lautlichen Nähe zu „Volksvertreter“ eine Beleidigung ist, die speziell auf gewählte Politiker gemünzt ist, ohne aber jemanden zu meinen, sondern um über das Wort zu reden wie hier.

Ihre rassistischen Äußerungen sorgten für viele wütende, verletzte und verständnislose Reaktionen. Auch bei uns – wir empfinden solche Aussagen als No-Go.

Wer ist wir?

Denn natürlich ist es anstrengend, immer und immer wieder aufs Neue erklären zu müssen, wieso und wie bestimmte Begriffe Menschen diskriminieren, abwerten und kränken.

Das weiß sie möglicherweise sogar. Wenn sie aber darüber reden, und anscheinend nicht Leute beleidigen will (indem sie sie so nennt oder dauernd „N-Wort, N-Wort“ ruft), und man ihr nicht einfach üble Motive unterstellt.

Der Begriff „Cancel-Culture” – auf Deutsch in etwa „Boykott-Kultur” – steht, vereinfacht gesagt, für einen Vorgang, bei dem ein Unternehmen oder eine bekannte Person etwas Inakzeptables tut oder sagt und dafür öffentlich zur Rechenschaft gezogen wird.

Nein, Boykott ist das hier. Weiße Kolonialisierungsopfer wehrten sich gegen weiße Kolonialherren. Canceln ist, wenn eine Firma – bspw. SAT1 – einen Vertrag nicht verlängert. Ob zu Recht oder Unrecht, ist für die Definition egal. Ja, es gibt Überschneidungen.

Zum Beispiel: „XYZ hat dies getan oder das gesagt, geht nicht zur Show!“

Oder: „JKR hat was über Transsexuelle gesagt, spielt nicht das Spiel, das immerhin mit ihren Büchern zu tun hat!“ Natürlich tut dieser Boykott Frau Rowling am wenigsten weh.

Ein Boykott ist ein Weg anzuerkennen, „dass man nicht die Macht hat, strukturelle Ungleichheit zu beeinflussen“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Dr. Anne Harper Charity Hudley.

Wieso? Das wäre nur so, wenn Boykotte niemals etwas brächten, und warum würde man das überhaupt noch was versuchen. Jemanden „canceln“ bedeutet, jemand drittes, der mehr Macht hat, dazu zu bringen (oder es zu versuchen), etwas zu ändern, indem soe Mockridges Vertrag kündigt. Man kann „jeden“ auffordern, nicht zu Mockridge-Shows zu gehen. Man kann aber nur seine Vertragspartner oder Vorgesetzte auffordern, ihm zu kündigen. Kleiner Unterschied, oder?

„Wenn man nicht die Möglichkeit hat, etwas mit politischen Mitteln zu verändern, kann man wenigstens die Teilnahme verweigern.”

Es darf keine politischen Möglichkeiten geben, sondern nur rechtsstaatliche. Bzw., ja, alle dürfen Mockridge boykottieren. Aber niemand darf dazu gezwungen werden.

Hinter Cancel-Culture stecken also zwei Dinge: erstens Empowerment und zweitens die Forderung nach Rechenschaftspflicht.

Hinter Boykott vllt., aber hinter Cancel-Forderungen nicht. Soll sich SAT1 rechtfertigen für etwas, was jemand außerhalb seiner Arbeitszeit, außerhalb des Arbeitsplatzes und auch nicht mit oder gegen Mitangestellte getan hat?

Im Grunde geht es darum, dass Leute nicht mehr mit jedem Mist davonkommen und dass weniger einflussreiche und privilegierte Menschen Gehör finden.

Wenn das kritisierte Verhalten illegal ist UND man in einem Rechtsstaat lebt, gibt es keine Rechtfertigung, diesen zu umgehen. Und wenn man findet, ein legales Verhalten – wie Enwort sagen – solle illegal sein, kann man sich dafür engagieren.

Es kommt aber auch vor, dass es bei solchen Hinweisen und Aufrufen in sozialen Netzwerken nicht um das Thema an sich geht. Sondern darum, die Reichweite zu steigern und das eigene Profil zu schärfen.

Oder um Leute fertig zu machen, die Mockridge lustig finden oder Hogwarts toll. Der Mechanismus dabei ist generell derselbe wie beim Mobbing.

Aber auch damit, wie eine Person online wahrgenommen werden möchte: „Guckt, welche Werte ich vertrete!“

Guckt mal, Pinkstinks!!!

Absurd komisch wird es, wenn es zu einer Cancel-Culture der Cancel-Culture kommt. Bayerns Gender-Verbots-Ministerpräsident Markus Söder bediente sich der Cancel-Culture Methodik und disste doch gegen sie. 

Tja. Wer die Macht hat, braucht nicht zu boykottieren – denkt Ihr immer noch, „boykottieren“ und „canceln“ sei beliebig austauschbar?

Das kann ziemlich hässlich werden und auch mal (nicht-prominente) Leute treffen oder Menschen, die das nicht verdient haben.

Wann ist es denn jemals nur ein bisschen hässlich geworden? Die ganzen Mitarbeiter bei Hogwarts Legacy hatten es nicht verdient, dessen Spieler auch nicht, und wenn man meint, eine Milliardärin habe es doch verdient, nagut – die hat es am wenigsten getroffen.

Einige behaupten, dass dadurch öffentliche Diskussionen verzerrt und verhindert werden. Und zwar deshalb, weil Menschen aus Angst vor den Reaktionen lieber schweigen und darum kein richtiger Austausch mehr stattfindet. Das würde die Spaltung der Gesellschaft vertiefen.

Na, das kann ja kein Argument sein – genau DAS ist doch der Plan! Leute einschüchtern, Diskussionen unterbinden, Gesellschaft spalten.

Die entscheidende Dreifach-Preisfrage lautet aber: Wer schweigt wirklich, worüber soll sich ausgetauscht werden und was heißt überhaupt Spaltung der Gesellschaft?

Wer alles schweigt, kann man nicht wissen, wenn man Schweigen als Zustimmung  oder Desinteresse wertet. Es gibt kein Thema, über dass man sich nicht austauschen sollte. Spaltung heißt hier, dass aus einer Gesellschaft zwei oder mehr werden.

Die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling beispielsweise … ist eine der bekanntesten Personen im Zentrum der Debatte um Cancel-Culture. Trotzdem hat ihre Firma Pottermore Publishing den Profit innerhalb eines Jahres um 150 Prozent gesteigert.

Ja. Beweist das jetzt, dass Cancel-Culture nicht funktioniert, oder dass man sich halt schwächere Gegner aussuchen muss?

Weder schweigt sie noch wurde ihre Karriere zerstört. So gesehen „darf“ und kann sie theoretisch immer noch alles sagen.

Wenn jemand sagt: „Es gibt keine Cancel Culture!“ ist meistens gemeint „leider“.

Oder Sarah Kuttner. Rückblickend? Ein „Ausrutscher”. Nach dem Shitstorm ging es für die deutsche Fernsehmoderatorin und Autorin erfolgreich weiter.  

Ja? Woran macht man das fest?

Und niemand, wirklich niemand muss sich im zweiten Jahrtausend noch darüber „austauschen“, ob das N-Wort rassistisch ist. 

Müssen nicht. Es geht ums dürfen.

„Wenn man sich die Geschichte anguckt, findet man unzählige Beispiele von Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit ausgesprochen haben und dafür verfolgt wurden“, so der Historiker C. J. Coventry. „Mir fällt eine Reihe von Menschen in der heutigen Zeit ein, die von vermeintlich demokratischen Regierungen verfolgt werden, weil sie unbequeme Informationen preisgegeben haben.“

Also, Assange ist gecancelt worden?

Die echte Spaltung der Gesellschaft verläuft nämlich nicht zwischen einem linken Online-Mob und Onkel Günther, der wie früher ungestört weiter seine widerlichen Witze raushauen will. Sondern zwischen Menschen mit Macht, Teilhabe und Privilegien und denen ohne. 

Ok, ist „Onkel Günther“ also auf der Seite der Spaltung mit der Macht? Aber der „linke Online-Mob“ auf der Seite der Menschen ohne, richtig? Also verläuft die „echte“ Spaltung, wenn es genau eine gibt, eben doch zwischen Onkel Günther und den Linken.

Das finden Konservative und Rechte ungemütlich. Deswegen tun sie oft so, als wäre die Forderung nach mehr Rechenschaft ein Aufruf zur Selbstjustiz und plärren: „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“

Also, es gibt die Spaltung der Gesellschaft, und die Konservativen und Rechten finden die generell ok, während Linke und Progressive diese schließen wollen? Kommt mir nicht so vor. JKR ist mMn ziemlich links, und mit Ausnahme ihres TERFtums ganz „auf Linie“.

Sie selbst haben aber kein Problem damit, irgendwen oder irgendwas zu canceln. Was sich beispielsweise am Verbot von Gender-Sonderzeichen in bayerischen Schulen, Hochschulen und Behörden zeigt. 

Ein Gender* ist keine Person, es gäbe andere Möglichkeiten zu gendern, aber ja, Rechte und Konservative haben nichts gegen Canceln, wenn sie es selber machen. Hallo, liebe Hufeisentheorie.

Oder in den Bücherverbannungen in Schulen und Bibliotheken der USA: Im Schuljahr 2022/23 gab es 3.362 Fälle. 

Ok, ist auch schlimm, aber definitiv nicht meine Gesellschaft – was stört mich da die Spaltung?

Sprache verändert sich ständig. Und sie ist ein mächtiges Werkzeug. Denn sie beeinflusst unser Denken – und damit auch unsere Handlungen und die Realität anderer Menschen.

Richtig, früher war das eine N-Wort noch „neutral“. Aber gut, jetzt nicht mehr. Wieauchimmer: Entweder, ich bin rassistisch oder nicht. Aber daran ändert sich nichts, egal, was Kuttner sagt oder nicht sagt.

Ein Beispiel dafür, wie’s anders gehen kann: Die Musikerinnen Lizzo und Beyoncé haben ableistische Begriffe in ihren Songs benutzt. Nachdem sie von ihrer Community darauf aufmerksam gemacht wurden, haben sie die Texte angepasst. 

Nämlich? Tja, jetzt erfahre ich nicht, was das war, weil man darüber selbst dann nicht (bei pinkstinks) reden darf, wenn es explizit zu anti-ableistischen Zwecken gesagt werden soll.

Auch gute Comedy tritt immer nach oben und nie nach unten. 

Wir brauchen eine Comedy-Polizei, die entscheidet, wer im Zweifel unten ist.

Oder wir lassen die Leute das selber entscheiden, und plötzlich ist JKR als Frau „unten“.

  • Geht der Witz auf Kosten weniger privilegierter Personen? Auf jeden Fall verkneifen.

Ist ein schwuler Weißer weniger privilegiert als ein schwarzer Hetero?

  • Reduziert der Begriff einen Menschen auf einen Umstand (z. B. Obdachlose*r)? Stattdessen: Mensch ohne Wohnung oder Mensch mit Behinderung.

Ok, sorry, ein hellhäutiger Mensch mit Homosexualität oder ein dunkelhäutiger mit Heterosexualität?

  • Diskriminiert das Schimpfwort eine marginalisierte Gruppe? Dann lieber “Du Wurst” oder “Arschtasche” – geht immer.

Natürlich sind Beleidigung immer beleidigend und sollten nie verwendet werden.

  • Nimmt der Satz eine geschlechtliche Identität vorweg (wie „Der junge Mann dahinten“)? Stattdessen: „Die Person dahinten im roten Pulli!“

Was, wenn die Person farbenblind ist und sich nicht angesprochen fühlt?

  • Kann das Wort als rassistisch interpretiert werden? Dann ist es sehr wahrscheinlich auch rassistisch und sollte nicht gesagt werden.

Natürlich kann man jeden Menschen Rassismus unterstellen, also kann allem, was ich sage, jederzeit rassistische Absichten unterstellen. Einschließlich „Du Wurst!“ Wegen Weißwurst und so.

„Alles, was Sie sagen, kann und WIRD gegen Sie verwendet werden…“

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