Irgendwas irgendwas Gap

Straßennamen

Ob Hauptverkehrsadern am Rand der Metropolen oder verwinkelte Gassen in der Altstadt, in Nordskandinavien oder an der Mittelmeerküste, ganz im Westen Europas oder im umkämpften Kiew – europäische Straßen haben mindestens eines gemeinsam: Sie sind weitaus öfter nach Männern als nach Frauen benannt.

Tja. Und das ist unfair, weil…?

Selbst in Stockholm, der Stadt mit der geringsten Geschlechterdifferenz, beträgt der Anteil der nach Männern benannten Straßen noch immer 80 Prozent.

Straßen sind typischerweise nach Toten benannt. Historische Personen, die in historischen Zeiten lebten, spiegelten die sozialen Strukturen ihrer jeweiligen Epochen wieder, die man nicht gut finden muss, aber nolens volens abbildet, wenn man berühmte Leuten Straßen als Denkmal setzt. Wie viele Leibeigene sind berühmt geworden? Wie viele Analphabeten?

Zwar ist Europa ein dicht besiedeltes Gebiet mit einer mehrtausendjährigen Geschichte, dennoch haben es nur 3.500 Frauen auf die Straßenkarten der 30 von uns untersuchten großen Städte geschafft. Hätten sie alle zur gleichen Zeit gelebt, würden sie alle in die Wohnungen und Häuser einer einzigen großen Straße passen.

Die allermeisten dieser Männer und Frauen hatten kein allgemeines Wahlrecht. Universitäten waren die meiste Zeit über für Männer reserviert. Und zwar nicht einmal für alle Männer, weil Leibeigene, Analphabeten und später Arbeitersöhne wenig bis gar keine Chance hatten, irgendwie als Gelehrte berühmt zu werden. Adelig war man von Geburt an, reich meist auch. Militär war teilweise eine relativ faire Möglichkeit, ohne sonstige Vorteile Ruhm zu farmen, aber – wie gesagt – als Mann. Dass es vier- bis zehnmal so viele berühmte Männer wie Frauen seit der frühen Eisenzeit in Europa gab, hat also Gründe und ist keine Geschichtsklitterung. Es gibt, in Relation zur Gesamtbevölkerung, auch ein deutliches Übergewicht an Adeligen.

Das ist ein subtiler, aber beeindruckender Hinweis darauf, wer in unserer Gesellschaft Wertschätzung erfährt und wer nicht.

Die BRD der 50er sind nicht mehr „unsere“ Gesellschaft. Die DDR der 90er auch nicht. Wenn jetzt die Frage ist, welche Gesellschaft sagen wir eine Hindenburgstr. abbilden soll – eine Gesellschaft, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts obsolet war.

Die Vorherrschaft männlicher Personen bei unseren Straßennamen ist auch eine unterschwellige, aber stetige Kraft, die mit dafür sorgt, dass die Beiträge von Frauen zur Geschichte, zur Kunst, zur Kultur oder zur Wissenschaft weiter marginalisiert werden.

Wie viele Frauen müssten es denn sein, rein statistisch gesehen?

Die Jungfrau Maria und die heilige Anna sind in den untersuchten Städten die beliebtesten Frauen.

Witzigerweise auch keine Europäerinnen.

Die meisten nach Frauen benannten Straßen ehren allerdings keine religiösen Persönlichkeiten. Generell werden Personen gewürdigt, die in Kultur oder Wissenschaft aktiv waren, darunter Literatur- und Kunstschaffende. Adlige und politisch aktive Personen werden in ganz Europa ebenfalls relativ oft geehrt.

No shit, Sherlock seine Schwester.

Kopenhagen und Krakau haben 71 Straßen nach Frauen benannt. In Kopenhagen ist nur eine der Frauen eine religiöse Persönlichkeit, in Krakau sind es mindestens zehn.

Offenbar haben Kopenhagen und Krakau unterschiedliche Gesellschaften, die unterschiedliche Prioritäten haben. Da ich in beiden nicht wohne, ist das aber nicht meine Schuld.

Bei der Herkunft der Namensgeberinnen für Straßen verhalten sich die Städte allerdings ziemlich ähnlich: Abgesehen von ein paar Heiligen aus dem Nahen Osten stammen fast alle aus Europa. Die bemerkenswertesten Ausnahmen sind die indische Staatschefin Indira Gandhi und die südafrikanische Musikerin Miriam Makeba.

In Indien, Afrika oder auch im nahen Osten ist das bestimmt eher umgekehrt, oder? Wo ist jetzt der Vorwurf?

Dank der Bemühungen vieler aktivistischer und intellektueller Personen ist das Bewusstsein dafür, wie stark wohlhabende weiße Männer in ganz Europa überrepräsentiert sind, gestiegen.

Dass arme weiße Männer – selbst in der Herkunftsweltgegend der weißen Menschen – unterrepräsentiert waren – wer hätte das nicht gedacht? Wie intellektuell muss man sein, um dieses Bewusstsein noch steigern zu können? Ich bin ganz erstaunt.

Die Daten deuten jedoch darauf hin, dass dieses Bewusstsein noch nicht zu einer signifikanten Veränderung bei der Vergabe von Straßennamen geführt hat.

Ja – Kunststück. Es müssen ja nicht nur genug Frauen gefunden werden, die nicht nur tot sind, sondern auch etwas besonderes geleistet haben, man muss auch mehr neue Straßen bauen.

Wir haben uns die Benennung und Umbenennung von Straßen in einigen der größten Städte Europas in den letzten zehn Jahren angesehen:

Leute mögen es nicht, wenn man ihre Adresse von Amts wegen ändert. Hitlerstraßen sind wohl relativ schnell umbenannt worden. Aber dass sich das in zehn Jahren nicht groß ändern kann, wegen erstens Jahrtausenden -hunderten ohne Uniplätze für Frauen einerseits und andererseits, weil man eben nicht einfach eine Straße umbenennt oder neu baut, ist offenbar ein ernsthaftes Problem und keine Naivität…

Wenn man den Gender-Gap schließen will, kommt man mit einer paritätischen Verteilung nicht weiter. Selbst wenn die meisten oder gar alle neu gebauten Straßen nach Frauen benannt würden, wäre das nicht genug.

Tja. Welcher Schaden entsteht durch eine Straße, die nach einem Mann benannt wurde? Oder durch sehr viele Straßen, die nach Männern benannt wurden? Inwiefern ist das „genug“ nicht definiert.

Zudem weisen einige forschende und aktivistisch tätige Personen darauf hin, dass neue, nach Frauen benannte Straßen tendenziell in Außenbezirken der Städte liegen, also in Wohngebieten mit geringer Sichtbarkeit für diese Frauen.

Für wen ist diese Sichtbarkeit wichtig? Werde ich eher zu einem Wasserstoff-Zeppelin, wenn die Hindenburgstr. in der Innenstadt liegt? Was ist mit der Marie-Curie-Straße? Weiß man, wer das ist, weil man in der Straße wohnt?

Eine systematische Umbenennung von Straßen zur Abschaffung der Geschlechterdifferenz ist schwer vorstellbar. Es wäre extrem unpraktisch und verwirrend, hunderttausende Adressen zu ändern.

Ach?

Andere Möglichkeiten für die Ehrung von Frauen im öffentlichen Raum zu suchen, wie zum Beispiel die Benennung von Schulen, Parks oder Transportknotenpunkten, wäre eine praktikablere Strategie.

Die Grundschule, auf die mein Vater ging, hieß seinerzeit Bismarck-Schule, wurde inzwischen zu Janusz-Korczak-Schule umbenannt, aus Gründen, die mit dessen Liebe zu Kindern einherging. Sicher werden aktivistische Feministinnen eine Frau finden, die sich mindestens genauso sehr für Kinder engagierte. Ganz sicher.

„Entscheidungsgremien auf Lokalebene sollten bei der Auswahl von Straßennamen mit der Zivilgesellschaft kooperieren.“

DIE Zivilgesellschaft gibt es offensichtlich nicht. Aber ja, hier um die Ecke ist eine Straße nach einer Künstlerin benannt, die eine Straße weiter wohnte. Warum diese Straße nicht nach ihr benannt wurde? In der Straße wohnte auch ein bekannter männlicher Künstler, und fairnisshalber wurde die Straße weder nach ihm noch nach ihr benannt, sondern sie bekam eine Straße und er auch – um die andere Ecke.

Tatsächlich können Ansätze, die die Menschen einbeziehen, Mut machende Diskussionen auslösen, die gesellschaftliche Werte hinterfragen. Werden Umbenennungen von Behörden angeordnet, besteht die Gefahr, dass diese Aktionen zu einer reinen Werbemaßnahme für Lokalpolitiker*innen werden, statt tatsächlich Veränderungen herbeizuführen.

Ich erinnere mich an das Bud-Spencer-Bad. Wenn das Problem so dringend wäre, dürfte es nicht dem Zufall überlassen werden. Wie gesagt, es ist nicht so, dass einfach mehr Straßen nach berühmten Männern benannt wurden, sondern es gibt tatsächlich mehr berühmte Männer, bzw. es gab mehr männliche Künstler, Politiker, Feldherren und Wissenschaftler in den letzten paar Jahrtausenden. Ich kann’s halt auch nicht ändern.

 „Wir sollten eine Möglichkeit finden, diese guten Praktiken zu vernetzen und ihre Verbreitung von Ort zu Ort zu voranzubringen. Es wäre sehr hilfreich, wenn die EU die Verbreitung eines solchen Austauschs fördern könnte.“

Oh möge von allen denkbaren Organisationen ausgerechnet die EU die Lokalpolitik regeln! Merkterselber, woll?

5 Gedanken zu “Irgendwas irgendwas Gap

  1. Vorschlag: einfach gar keine Straßen mehr nach Individuen benennen.
    Zahlen, Tiere, Pflanzen. Ggf. noch Familennamen. In meinem Heimatdorf werden z.B. neue Straßen nach Höfen genannt, die da früher gestanden haben.
    Kann man auch mit Promis machen. Eine Curie-Straße z.B. kann sich ja auf ALLE Curies beziehen.

    Gefällt 1 Person

  2. Auffallend ist, dass der Aritkel von Lorenzo Ferrari mitverfasst wurde, die auch in dem European Data Journalism Network drin hängt, welches über ein paar Links auch die Quelle vo Osservatorio balcani e caucaso transeuropa stellt, in der Ferrari als „Researcher“ angestellt ist. Eine Quelle dort sucht man allerdings länger und stolpert nur in den Zeilen über ein Brüsseler Open Journal (https://journals.openedition.org/brussels/5433). Allerdings erinnert mich die Sektion über Methodology verblüffend an den Hunde-Hoax von Sokal-Squared.

    Das muss diese rigorose Wissenschaft sein, von der man überall hört…

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