Anti-Paradox

Vor Jahren hat Anatol Stefanowitsch mal einen Vortrag zum Thema Plattformneutralität gehalten, in dem er u.a. behauptete, dass eine Sache und ihr Oberbegriff nicht durch dasselbe Wort bezeichnet würden. Also, dass „Dachdecker“ nicht gleichzeitig „männliche Dachdecker“ und „Dachdecker allgemein“ hieße, oder was es gerade war, und man daher gendern müsse.

In einer idealen Welt mit eine mathematisch-exakten Sprache würde ich ihm Recht geben. Aber Sprachen – und vermutlich alle Sprachen, nicht nur die deutsche – sind halt ungenau. „Kleider“ bezeichnet einmal den Plural von „Kleid“, andererseits  jede Oberbekleidung, „Daten“ sind der Plural von „Datum“, können aber auch Informationen über Gewicht, Größe oder Wohnort enthalten, ein „Mann“ kann auch einen „Ehemann“ bezeichnen, aber nicht alle „Männer“ sind auch „Ehemänner“, „Nägel“ ist der Oberbegriff für „Nägel“ und „Drahtstifte“, „Krokodile“ sind „echte Krokodile“, „Alligatoren“, „Kaimane“ und „Gaviale“, etc. pp.; der Beispiele sind derartig viele, dass es kein Argument sein kann, bei Dachdeckern feinteilig zu differenzieren.

Aber gut, er hat mit „Tag = Tag und Nacht“ ein eigenes Beispiel gefunden.

Ein Unterschied wie Tag und Nacht – Warum Gleichstellung geschlechtersensible Sprache braucht

Mir egal – ich bin eh‘ mehr für Gleichberechtigung. Aber ja, um der intellektuelle Redlichkeit wegen: Diskurs!

Eines der vier Grundprinzipien der Wikipedia ist der „Neutrale Standpunkt“: Artikel sollen ihr Thema „weder mit abwertendem noch mit sympathisierendem Unterton“ aus einer „neutralen Sicht“ darstellen.

Um Strampelnder Vogel zu zitieren: „Selbst unsere Feinde stimmen mit uns dahingehend überein, dass…“, wenn ein Sachverhalt eindeutig ist, herrscht selbst unter denen Konsens, die sonst über alles streiten. Denn hier ist mit „neutral“ offenbar „wertneutral“ und „unparteiisch“ gemeint, nicht „geschlechtsneutral“. „Ross“ und „Gaul“ für „Pferd“ sind keine wertneutralen Bezeichnungen, weil sie das Tier ab- bzw. aufwerten. „Hengst“ und „Stute“ hingegen schon, obwohl sie weder geschlechts- noch genusneutral sind. (Und ich glaube, der Herr Professor stellt sich im Folgenden dumm, damit seine Argumentation funktioniert.)

Für eine Enzyklopädie ist das ein unverzichtbares Prinzip, auch wenn es in der Realität nur schwer umzusetzen ist – die seitenlangen hitzigen Diskussionen zu vielen Artikeln, die in traditionellen Redaktionen sicher ebenso geführt werden, zeigen das.

Ja, aber bei solchen Diskussionen geht es auch oft um so Dinge wie „Relevanz“, oder ob eine dritte Quelle „neutral“ im Sinne von unparteiisch oder nicht-wertend sei. Was nicht heißen soll, dass es nicht schwer ist, aber nicht so schwer. (Und Sachen wie „Mädel“ für Mädchen oder „Kerl“ für Mann sind eher selten Thema, hoffe ich.)

Aber was, wenn die Sprache selbst keinen neutralen Standpunkt bietet?

Zeichnungen und Zahlen. Zeichnungen und Zahlen sind neutral und außerdem viel präziser als Wörter.

“Die Sprachen, die wir heute sprechen, sind historisch gewachsen und die Standpunkte vergangener Gesellschaften sind tief in ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik verankert.”

Anatol Stefanowitsch

Wer ist „wir“? Spreche ich dieselben Sprachen wie ein Chinese? Und warum muss man etwas, was man selbst einmal gesagt hat, als Zitat mit Quellenangabe schreiben? Aber ja, Sprachen sind bestimmt historisch gewachsen, so sagt man heute noch oft, eine Straße sei „frisch geteert“, obwohl in Deutschland spätestens seit der Wende keine Straßen mehr geteert wurden, sondern asphaltiert. Trotzdem übernimmt niemand, der „geteert“ sagt, die veraltete Meinung, Teer wäre ja gar nicht so giftig.

Der traditionelle Sprachgebrauch – so selbstverständlich er uns durch die Macht der Gewohnheit sein mag – ist deshalb häufig nicht neutral, sondern vom abwertenden oder sympathisierenden Unterton dieser Gesellschaften geprägt.

Sprachen wandeln sich – was früher mal ein abwertendes Wort war, ist heute neutral oder positiv. Oder umgekehrt. Der Fachbegriff für Wörter, die sich „verbessern“, lautet mWn „Geusenwort“. Insofern bestimmen wir, was Wörter bedeuten, nicht umgekehrt.

Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Bezug auf Personen. Wie in vielen anderen Sprachen sind im Deutschen fast alle Personenbezeichnungen gegendert: Sie existieren in einer männlichen und in einer weiblichen Variante –geschlechtsneutrale Bezeichnungen gibt es im traditionellen Sprachgebrauch nur in Ausnahmefällen.

Ja, aber die Wikipedia fordert ja keine geschlechtsneutrale, sondern wertneutrale Einträge. „Dachdecker müssen schwindelfrei sein“ – wer schlussfolgert daraus, dass das nur für männliche gelten soll?

Bezeichnungen, die Kategorien außerhalb des Männlichen und Weiblichen einschließen, gibt es gar nicht.

Funfact: zwei von drei Genera im Deutschen werden im Deutschen nach Wörtern benannt, die ein anderes als das bezeichnete Genus haben. Der Mann ist männlich, aber die Sache weiblich und das Weib männlich. Wer da noch konsequente Logik fordert, hat Deutsch einfach nicht verstanden.

Das stellt uns zum einen vor Probleme, wenn es darum geht, geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrakte Kategorien von Personen zu bezeichnen.

Wenn von einer konkreten geschlechtlich gemischten Gruppe die Rede sein soll, und nicht tatsächlich von einer generischen, könnte man mathematisch korrekt schreiben: „Dachdeckerinnen und nicht-weibliche Dachdecker“ Aber nun, das sind wohl zu viele Zeichen.

Zum anderen macht es den Bezug auf Menschen, die sich in den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ nicht wiederfinden, fast unmöglich.

Die wären bei den „nicht-weiblichen“ Dachdeckern gemeint. Und nicht nur „mitgemeint“, sondern sie arbeiten als Dachdecker, sie sind nicht weiblich, ergo sind sie nicht-weibliche Dachdecker.

Für den Bezug auf geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrakte Kategorien von Personen bietet der traditionelle Sprachgebrauch eine einfache Lösung: Man verwende einfach männliche Formen und verlasse sich darauf, dass Frauen (und andere, dazu später mehr) sich schon irgendwie mitgemeint fühlen werden.

Ich sehe ein, dass abstrakte Kategorien wie in „Dachdecker müssen schwindelfrei sein“ etwas anderes sind als konkrete geschlechtlich gemische Gruppen wie „die Dachdecker gingen über den Friedhof“. Bei letzterem markieren die bestimmten Artikel und das Präeteritum, das eine konkrete Gruppe an einem konkreten Ort an einem konkreten Zeitpunkt gemeint sind, nicht die generische Gruppe aller Menschen, die als Dachdecker arbeiten, und daher die Vermutung legitim wäre, dass damit auch eine rein männliche Gruppe gemeint ist. Erfahrungsgemäß sind Dachdeckerinnen aber sehr selten, so dass die eher einzeln auftreten. Aber wenn man zum Ausdruck bringen will, kann man ja schreiben: „Die Dachdeckerin und die Dachdecker gingen über den Friedhof.“

In Texten – vor allem auch in enzyklopädischen – findet sich diese scheinbare Lösung immer noch mit großer Selbstverständlichkeit.

Pars pro toto, anyone? In einer Sprache, in der „in den eigenen vier Wänden“ dasselbe bedeutet wie „unter dem eigenen Dach“ kann „der Dachdecker“ auch „die Dachdecker“, „die Dachdeckerfirma“ oder „die Dachdeckerinnen und -decker“ heißen. Oder Zimmerleute, die mal als Dachdecker arbeiten.

Es ist aber nur eine scheinbare Lösung, denn sie spiegelt eben einen Standpunkt wider, der alles andere als neutral ist: dass nämlich Männer der gesellschaftliche Normalfall und Frauen eine Art Nachgedanke sind.

Ich kann natürlich einen Standpunkt widerspiegeln, der nicht der meine ist, ohne ihn mir zu eigen machen. Wie beim Wort Leberkäse. Oder bei der Redensart: „Etwas auf links drehen“. Oder mein Kleiderschrank enthält kein einziges Kleid. Zufälligerweise sind männliche Dachdecker aber der gesellschaftliche Normalfall, wegen Gründen.

Das entspricht zwar sehr genau den Wertvorstellungen vergangener Gesellschaften, aber sicher nicht der unseren.

Und Teer ist ein sehr ungesundes Zeug, das nicht mehr verwendet werden sollte, obwohl es zumindest sprachlich verwendet wird. Also, wo ist genau das Problem?

Wie wenig akzeptabel dieses Vorgehen ist, zeigt sich jedes Mal, wenn ein Text es umgekehrt versucht:

Man kann Unlogik nicht durch noch mehr Unlogik bekämpfen. Also „Leberkäse“ durch „Milchfleisch“ ersetzen oder so. Irgendwo in Düsseldorf wurde in einer Straße der dortige Teer mal „Hitlerasphalt“ benannt.

Und als das Justizministerium 2020 in einem Gesetzesentwurf ebenso verfuhr, sah sich der Innenminister höchstpersönlich in der Pflicht, in das Verfahren einzugreifen und den männlichen Normalfall wiederherzustellen.

Weil bei Gesetzestexten tatsächlich das Gewohnheitsrecht gilt: Außer in solchen Fällen, wo ein Gesetz ausdrücklich nur für Männer gilt, oder in dem einen Fall nur für Frauen, gelten alle Gesetze für beide Geschlechter, selbst wenn da „Verbrecher“ steht. Irrtumsvorbehaltmäßig wäre das eine zu einfache Ausrede…

Wenn es nun aber für Männer nicht zumutbar ist, sich in der Satzung einer Universität, die die meisten von ihnen nie besucht haben, oder in einem Gesetzesentwurf, den die meisten von ihnen nie lesen werden, als Nachgedanke zu einem weiblichen Normalfall wiederzufinden, können sie es gemäß der goldenen Regel umgekehrt auch den Frauen nicht zumuten.

Die Satzung einer Uni, die ich nicht zu besuchen gedenke, ist mir persönlich in der Tat egal, aber ein Gesetz (nicht nur ein Entwurf), das mich vor Schaden durch Dritte schützen soll, ist nicht unwichtig. Nicht, dass andere Männer mit Verweis auf das Gewohnheitsrecht vortragen, es wäre nicht erkennbar gewesen, dass es für sie gemeint wäre. Handele so, dass Du Dir wünschen kannst, das Prinzip Deines Handelns wäre allgemeines Prinzip. Das Prinzip meines Handelns ist hier das Gewohnheitsrecht, und es gibt eine Menge Frauen, die mit dem generischen Maskulinum kein Problem haben, also ist es keine Zumutung für sie. (Oder, WENN wir das Fass aufmachen, hätte ich gerne die Abschaffung des Wortes „Leberkäse“, Korrekturen von „frisch geteert“ in zeitgenössischen Texten, die von Deutschland handeln, und noch eine ganze Menge mehr.)

Daran ändern auch die Versuche mancher sprachwissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen nichts, das Maskulinum zu einer „neutralen“ Form umzudefinieren. Das funktioniert schon auf der sprachsystemischen Ebene nicht.

Es ist „neutral“, weil „Dachdecker“ keine Auf- oder Abwertung gegenüber „Dachdeckerin“ darstellt. Es ist natürlich nicht  genusneutral, weil es maskulin ist. „Dachdeckerchen“ wäre neutrum. Aber Sprachsystematik ist halt unlogisch.

Begründet wird die vermeintliche Neutralität des Maskulinums häufig mit der sogenannten Markiertheitstheorie. Die Wörter _Tag_ und _Nacht_ sind hierfür ein gutes Beispiel: Das Wort _Tag_ kann, in einen Gegensatz zu _Nacht_ gestellt, den „Zeitraum zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang“ bezeichnen …, oder es kann sich auf eine „Zeitspanne von 24 Stunden“ beziehen … und ist dann, paradoxerweise, Oberbegriff von _Tag_ und _Nacht_.

Und „täglich“ ist nicht das Gegenteil von „nächtlich“. Ich räume gerne ein, dass das generische Maskulinum nicht optimal ist, und wäre Deutsch eine Plansprache, gäbe es das Problem nicht, aber weil Deutsch generell nicht optimal ist, ist es albern, die eine unlogische Stelle optimieren zu wollen, alle anderen aber nicht. Mit „Amerika“ ist meist die USA gemeint, die ein Teil von Nordamerika sind, ihrerseits ein Teil von Amerika. Der Staat ist eine Untermenge des Kontinentes…

Genauso, argumentieren manche meiner Kollegen, sei es auch mit männlichen und weiblichen Personenbezeichnungen: ein Wort wie _Redakteur_ bezeichne entweder, im Gegensatz zur _Redakteurin_, einen Mann, der die entsprechende Tätigkeit ausübt, oder, als Oberbegriff von _Redakteur_ und _Redakteurin_, eine geschlechtlich nicht näher spezifizierte Person, die dies tut.

Das Pferd, die Stute, der Hengst. Der Hund, die Hündin, der Rüde. Die Katze, der Kater, die Kätzin. Das Huhn, der Hahn, die Henne. Das Ei. HURZ! Der Zwitter und die Drohne. Das Mädchen. Der Frischling. Das Messer, die Gabel, der Löffel. Der Mensch, die Person, das Individuum. Logik ist echt nur was für Mathematiker.

Selbst, wenn diese Analyse stimmen sollte (und daran darf man zweifeln), ändert sie nichts am Kern des Problems.

Der Kern des Problems ist, dass Sprache eben unlogisch und kontraintuitiv ist, und das kann man zumindest teilweise auch der historischen Entwicklung zuschreiben, also kann man es so nicht ändern. Es ist aber nicht „neutral“ im Sinne der Wikipedia-Forderung, sich Werturteile zu enthalten.

Der Grund, warum wir das Wort _Tag_ als Oberbegriff für _Tag und Nacht_ gewählt haben, und nicht das Wort _Nacht_, ist ja, dass der Tag für uns der Normalfall ist.

Joah. Und Kleider sind für „uns“ der Normalfall für „Oberbekleidung“, und ich bin nicht normal, weil ich kein Kleid besitze. Andererseits – wer will schon normal sein?

Es braucht aber gar keine sprachsystemischen Analysen, um zu realisieren, dass das generische Maskulinum nicht neutraler oder gerechter ist, als es ein generisches Femininum wäre:

„Neutral“ ist nicht „gerecht“. Ein Wikieintrag ist vllt. neutral, aber nicht „gerecht“, denn Urteile sind gerecht oder auch nicht, aber Wikiartikel sollen keine Urteile fällen, weil das nicht neutral wäre, also sind Wikiartikel weder gerecht noch ungerecht.

Psychologinnen und Psychologen untersuchen die Interpretation dieser Form seit zwanzig Jahren im Labor und haben wieder und wieder gezeigt, dass das Maskulinum, ganz egal, wie es im Einzelfall gemeint sein mag, von deutschsprachigen Menschen zunächst männlich interpretiert wird

Weil die eben bestimmte Artikel oder Präteritum verwendeten oder sonstwie zeigten, dass das nicht „generisch“ gemeint war. 

und dass eine generische Interpretation einen Zusatzaufwand bedeutet, den unser Gehirn nicht immer auf sich nimmt.

„Unser Gehirn“. Diese Formulierung legt nahe, dass sich Stefanowitsch ein Gehirn mit mindestens einer weiteren Person teilt. Oder er will, dass mein Gehirn eine generische Interpretation auf sich nimmt.

Ein neutraler Sprachgebrauch erfordert also mindestens, den männlichen Personenbezeichnungen die weiblichen zur Seite zu stellen.

Hier seht Ihr, liebe Kinder, wie der Onkel Stefanowitsch die Unschärfe des Begriffes „neutral“ als Oberbegriff zu „wertneutral“ und „geschlechtsneutral“ nutzt, um eine Vorschrift der Wikipedia zu nutzen, um die eigene Agenda zu puschen.

Damit ist aber noch nicht berücksichtigt, dass es Personen gibt, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht in den Kategorien „Mann“ und „Frau“ wiederfinden.

Oder in der Kategorie Dachdecker. Was ist eigentlich mit Zimmerleuten? Rein von der Grammatik her ist Leute ein Pluralwort, und im Plural ist im Dt. kein Genus markiert – wenn ich von Zimmerleuten rede, denkt dann jemand an Männer und Frauen?

Ich schreibe hier bewusst „aus welchen Gründen auch immer“, weil die Diskussion um sprachliche Neutralität an dieser Stelle häufig in eine Diskussion darüber umschlägt, ob es neben dem (oder außerhalb des) Männlichen und Weiblichen überhaupt geschlechtsrelevante Kategorien geben kann.

Bitte nicht böse sein, liebes nicht-binäres Individuum, dass eine Dachdeckerlehre macht, aber es ist insgesamt leichter, wenn wir uns Deinen Namen merken und in Zukunft sagen: „Liebe Dachdeckerinnen und Dachdecker, liebes Dachdecker-Individuum namens…“

Wenn wir sie mit „Ja“ beantworten, müssen wir zu neuen Formen wie dem Gendersternchen oder dem Unterstrich greifen.

Müssen schon mal gar nicht. Sprache ist halt unlogisch, ergo gibt es keinen Rechtsanspruch auf sprachliche Logik, und auch keinen moralischen.

In beiden Fällen beziehen wir eine Position, die uns selbstverständlich zusteht, für deren Konsequenzen wir dann aber auch die Verantwortung übernehmen müssen.

Wem müssten „wir“ „uns“ denn verantworten? Der Sprachpolizei? Gott? WEM? Vor allem, was genau ist eigentlich die Konsequenz, wenn bei Wikipedia oder wo über den Dachdeckerberuf steht: „Dachdecker müssen schwindelfrei sein“? Dass eine schwindelfreie junge Frau denkt, als potentielle Dachdeckerin hieße das, sie dürfe keinesfalls schwindelfrei sein, und sie ergreift einen anderen Beruf? Falls ja, mein Mitleid mit ihr, aber dann hat sie schlimmstenfalls einen gefährlichen Beruf vermieden. Insofern hielte mein Mitleid sich auch in Grenzen.

Neutral ist keine dieser Positionen, wobei das Bestehen auf einer Zweigeschlechtlichkeit zumindest durch die wissenschaftlich unstrittige Existenz von intersexuellen Personen sicher die weniger gut begründbare ist.

Von der Logik her und um der abstrakten Freude am Konstruieren will wäre eine Endung für Personen, die weder männlich, weiblich oder sächlich sind, ja schon nicht schlecht, aber weil – ich wiederhole mich – Logik eine rare Ressource ist: Der Zwitter, das Mädchen, die Drohne. Genus und Sexus fallen nicht zwangsläufig zusammen. Der geringen Unschärfe der Biologie steht ein irregulärer Haufen Sonderfälle der Grammatik gegenüber.

statt _Redakteure und Redakteur*innen_ oder _Redakteur*innen_ können wir etwa _in der Redaktion Tätige_ sagen.

Ja. Oder „wir“ sagen „die Redaktion“. Oder, wenn Redakteure und Redakteurinnen, aber nicht die ganze Redaktion gemeint sind, „Redaktionsmitglieder“. Oder, wie gesagt: „Redakteurinnen und nicht-weibliche Redakteure“. D’oh. Oder, wenn die Redaktionsmitglieder nicht alle derselben Redaktion angehören, sondern jemand vom Spiegel, jemand vom Stern, jemand vom… „Mitgleider verschiedener Redaktionen“. So werden mehr Informationen vermittelt.

Länger als _Redakteur und Redakteurin_ ist das auch nicht. Aber neutraler ist es auf jeden Fall.

Liebe Mitglieder verschiedener Redaktionen, was passiert, wenn ein nicht-binäres Redaktionsmitglied explizit als einzelnes Individuum genannt werden soll? Wie lautet die Einzahl von „Redakteur*innen“? „Redakteur*in“? Falls ja, heißt es dann „der“, „die“ oder „das“ „Redakteur*in“? Ich bin ja so gespannt, ob der Fall so oft vorkommt, dass sich da mal jemand konkrete Gedanken drum hat machen müssen.

3 Gedanken zu “Anti-Paradox

  1. 1. Sprachen sind alle historisch gewachsen, wie man an Alt-Latein, Alt-Klingonisch, Alt-Quenya, Alt-Esperanto und Alt-Strg-Entf sehen kann.

    2. Dass Gender-Sonderzeichen Probleme bereiten, könnte man am Beispiel der _Redakteur_innen_, die sich mit den _Lektor_innen_ und den _Schriftsetzer_innen_ dann über die Bedeutung von „_“ streiten, gut erkennen, wenn Anatol „wir“ Stefanowitsch und Nils „wir“ Pickert nicht augenwischermäßig solche Sachen beiseite wischen würden…

    3. „:“, „*“ und „_“ sind ja eh ziemlich einfallslos und bereiten Probleme. Wie wäre es mit einem der anderen 2^21-2 UTF-8 Zeichen? Es muss ja nicht \u1f4a9 bzw. u+1f4a9 sein. Allein „star“ liefert 914 Treffer in der Unicode-Tabelle. Ich schätze, das Dachdecker-Gender-Sternchen wäre dann dieses hier: 🌠(U+1F320), oder was meinen die hier anwesenden Dachdecker🌠innen?

    4. Fällt denen auch nix besseres ein, als für „Leichte Sprache“ zu werben, aber dann für „Leichte Sprache“-Sprecherinnen und „Leichte Sprache“-Specher und „Leichte Sprache“-Sprecher�innen[sic] auf Teufel-komm-raus zu gendern.

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  2. Er macht Werbung für eine alternative Sprache und verbockt es dann total.

    Wenn er erst gendert dann aber von „Kollegen“ spricht, verwendet er dann das verhasste generische Maskulinum, oder meint er allein Männer? Bei einem konsequenten Gebrauch des generischen Maskulinums entstehen solche Verständnisprobleme nicht, die haben nur solche, die auch so ein Problem mit allem männlichen haben.

    Und die „Studien“, die einem in den Kopf blicken wollen, sind mehr als zweifelhaft, ich empfehle hierzu „Von Menschen und Mensch*innen“ von Fabian Payr.

    Das schlimmste an dieser Sprachverschandlung ist, dass man die ganze Zeit genötigt wird in geschlechtlichen Kategorien zu denken; dass dieses totalitäre Ansinnen überall hinmacht.

    Der totalitäre Aspekt des Gendersprechs

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  3. „Es braucht aber gar keine sprachsystemischen Analysen, um zu realisieren…“

    Es braucht auch nur ein einziges Wort, um sich für einen Vortrag über die deutsche Sprache zu disqualifizieren. Better lack next time!

    Gefällt 2 Personen

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