Nein.
Auch wenn der Spiegel das vielleicht anders sieht, NEIN.
Häusliche Gewalt vor Gericht
Ist der Prozess Depp gegen Heard das Ende von #MeToo?
Warum sollte der das sein? Bei #MeToo geht es um Machtmissbrauch, sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt und generell um geschlechtsspezifische Rollenbilder, die – wie zahllose Feministinnen und -nisten mir ständig versichern – auch Männern schaden. Es kann doch nur Ziel von #MeToo sein, dass dergleichen Konsequenzen hat. Also juristische Konsequenzen.
In der Schlammschlacht zwischen den Hollywoodstars Johnny Depp und Amber Heard zeigt sich, wie brutal die globale Öffentlichkeit sein kann:
Ich breche mir keinen Zacken aus der Krone, wenn ich feststelle, dass die Schwärme an Amber-Heard-Verarsche-TikTok-Videos jetzt nichts Sinnvolles zur Thema beitragen. Oder dass Memes keine Argumente an sich sind, sondern nur die Prozesstage kommentieren. Und dass der ganze Prozess nicht zu „unserem“ Vergnügen geführt wird, auch, wenn es hauptsächlich daraum geht, wenn der beiden wir in Zukunft öfter im Kino sehen können. Und dass die ganze Öffentlichkeit nicht der Wahrheitsfindung dient, sondern mehr dafür, Depp bzw. Heard im Licht der Öffentlichkeit besser darzustellen. Dass Depp wahrscheinlich der talentiertere Schauspieler der beiden ist und definitiv der mit den längeren Berufserfahrung, verkabelt den ganzen Versuchsaufbau eher zu Depps Gunsten, allerdings ist die Frage, wem man glaubt, so gesehen schon albern: „Ich glaube eher Depp, weil Heard an der einen Stelle in dem einen Verhör eine komische Grimasse geschnitten hat.“ – „Ich glaube eher Heard; dass Depp weniger komische Grimassen schneidet, liegt nur daran, dass er so gut schauspielern kann.“
Vieles ist unklar, aber fertiggemacht wird die Frau.
Es gibt ganz viele andere Fälle, wo „die“ Frau, bzw., die Frau“en“ nicht fertiggemacht wurden. Oder angenommen, zwei Schwule würden einen dreckigen Scheidungskrieg führen – man erzähle mir nicht, die seien grundsätzlich besser als Heteroas – aber die öffentliche Meinung hätte sich sehr auf einen der beiden „eingeschossen“; würde der Spiegel schreiben: „Fertiggemacht wird mal wieder der Schwule, wie homophob?“
Ab da ist Zahlschranke, aber es gibt noch das:
Ein tatsächlich etwas weniger reißerischer Einstieg. Betonung auf „Etwas“ und „weniger“, weil Zitat von Depps Anwältin.
Die im Prozess vorgelegten Beweise hätten gezeigt, dass Heard und nicht Depp in der Beziehung gewalttätig gewesen sei, sagte die Anwältin.
Kuckt mal, Konjunktiv. Wenn man anderer Leute Äußerungen wiedergibt, ohne sie sich zu eigen machen wollen.
Heard hatte Depp, mit dem sie zwischen 2015 und 2017 verheiratet war, 2016 der häuslichen Gewalt bezichtigt und vor Gericht ein Kontaktverbot gegen ihren damaligen Ehemann beantragt. 2018 bezeichnete die Schauspielerin sich dann in einem Beitrag für die »Washington Post« als Opfer häuslicher Gewalt.
Oder, man lässt die Zeitwörter ganz weg, dann muss man auch keinen Konjunktiv verwenden – toll, was man als Journalist so alles lernt, woll? „Sie behauptete, dass er sie geschlagen habe!“ klänge ja nicht ganz so direkt, sondern etwas umständlich.
Sie nannte ihren Ex-Mann dabei zwar nicht namentlich. Depps Anwälte argumentieren aber, der Zeitungsbeitrag sei eine klare Anspielung auf den Vorfall im Jahr 2016 gewesen und bezichtige den Schauspieler deswegen erneut der Gewalt.
Depps Anwälte, Depp, diverse Leute, die den Artikel gelesen haben, und mutmaßlich die Studios, die nicht mehr mit Depp zusammenarbeiten wollten. Gegenfrage: hat Heard irgendwann erklärt, dass sie jemand anderen gemeint habe, so dass das eine missverständliche oder jedenfalls missverstandene Formulierung gewesen sei? (Sehr Ihr, ich kann das auch!) Oder hat irgendwer gesagt, dass soe nicht wegen angeblicher oder tatsächlicher Gewalt nicht mehr mit Depp zusammenarbeiten wollten, bzw. aus Angst vor Kino-Boykott, sondern weillll…????
Depp, der die Vorwürfe entschieden zurückweist, hat Heard auf 50 Millionen Dollar Schadensersatz verklagt.
Hey, die Härte der Konjunktivfreiheit auch für Depp. Yippikayey!
Die … Schauspielerin reagierte mit einer Gegenklage und verlangt 100 Millionen Dollar.
Ja, ich weiß. Ich warte eigentlich auf eine Aussage, ob es „Glaubt den Frauen!“ oder „Glaubt den Opfern!“ heißen müsste. Außerdem, da es rein juristisch zumindest um einen Zeitungsartikel geht – angenommen, beim Spiegel würde anonymisiert über ein Verbrechen berichtet (weil der Strafprozess noch nicht abgeschlossen ist, weil die Opfer geschützt werden sollen, weil die Sache (noch) nicht hinreichend belegt ist, usw.), aber eine Anzahl von Leuten würden erkennen können, dass der Täter eine bestimmte Person sein müsse, auch wenn sein Name nicht genannt wird. Wäre das ok, oder würde der Spiegel sich da ziemlichen Ärger einhandeln?
Die 36-Jährige wirft Depp nicht nur vor, immer wieder gewalttätig geworden zu sein. Sie argumentiert auch, selbst Opfer von Verleumdung durch Depp und sein Umfeld geworden zu sein, was ihrer Filmkarriere massiv geschadet habe.
Ach, Cancel Culture gibt es doch gar nicht. Alle, die gecancelt wurden, haben davon in Wahrheit profitiert. Jemanden zu canceln ist legitim. Eine dieser drei Aussagen wird schon zutreffen.
Depp und Heard hatten sich bereits 2020 bei einem Prozess in London gegenübergestanden. Depp hatte damals die britische Boulevardzeitung »The Sun« verklagt, die ihn als »Ehefrauenschläger« bezeichnet hatte.
Also haben sich eigentlich Depp und „Sun“ gegenübergestanden. Offenbar hat die Sun einerseits Belege (Heard) beigebracht, und andererseits hat die Sun sehr vermutlich kein Motiv, Depp beruflich schaden zu wollen, weil sie ihn möglicherweise hasst.
In dem Prozess sagte Heard als Zeugin aus und beschuldigte Depp, sie unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen immer wieder angegriffen zu haben.
Natürlich darf sich eine Zeitung ein Stück weit auf Aussagen von Interviewpartnern und/oder freien Mitarbeitern verlassen; sie muss die Quellen irgendwie kenntlich machen, aber eine Zeitung ist keine Staatsanwaltschaft. Die Ansprüche an den Aufwand und die Qualität der Wahrheitsfindung können gar nicht so streng sein wie vor Gericht.
Der Schauspieler wies die Vorwürfe entschieden zurück und warf seiner Ex-Frau vor, der »aggressive Teil« in ihrer konfliktreichen Beziehung gewesen zu sein. In dem Prozess gegen die »Sun« unterlag Depp allerdings.
„Konfliktreich“ ist natürlich ein Wieselwort. Aber weil der Spiegel nicht die BILD ist, will er sich nicht auf eindeutige Formulierungen festlegen. Oder auf eine Seite, wie „das“ Internet.
Leute, die auf Depps Seite sind:
- Depp-Fans (ist vllt. die größte Gruppe)
- Leute, die #MeToo blöd fanden oder finden (gibt es auch, ja)
- Leute, die #MeToo unterstützen und dabei keinerlei geschlechtsspezifische Vorurteile haben, und außerdem seine Version für die glaubwürdigere halten
- Leute, die zwar solche Vorurteile haben, aber seine Version trotzdem für die bei weitem glaubwürdigere halten
- Leute, die die Glaubwürdigkeit von #MeToo gefährdet sehen, wenn dergleichen Vorwürfe völlig unbegründet oder wahrheitswidrig erhoben werden
- Frauenhasser, die ihren Frauenhass ausleben (Karl!)
- weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, die sich von Frau Heard massiv verarscht vorkommen, weil man nicht „WOLF“ schreit, wenn kein Scheiß-Wolf da ist
- weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, die in IHR den Wolf erkennen, und „Verarschung“ nur als besonders peinlichen Euphemismus betrachten
- männliche Opfer von häuslicher Gewalt, die sich hoffentlich trauen, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen (via Genderama)
- Tiktoker, die auf den Zug aufspringen (ist vllt. die zweitgrößte Gruppe)
Leute, die auf Heards Seite sind:
- Heardfans
- Hardcore-„Glaubt den FRAUEN!“-Sagerinnen und -Sager
- Journalisten
Dass speziell die zweite Gruppe es nicht nur unter ihrer Würde hält, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnt, ihre Ansicht zu beweisen – denn ein Beweis erledigt den Glauben, und ohne Glauben ist „Glaubt den Frauen“ sinnlos – aber jedenfalls von Journalisten erwarte ich eigentlich mehr Analyse. Nicht „das Zucken der Augenlidern bei der 23. Frage belegt…“, sondern mehr: „Dieser Beweis ist glaubwürdig.“, „Diese Aussage klingt plausibel.“, „Jene Aussage hätte gar nicht zugelassen werden sollen.“, „Das ist ein Indiz, kein Beweis.“ – „Aussage A und B widersprechen einander, weil…“ und so weiter.
Und wenn man sich zum Eheleben der beiden nicht qualifiziert äußern kann oder will – die ganzen Medien, die über das Ende von Depps Rollen bei „Fluch der Karibik“ und „Phantastische Tierwesen“ berichtet haben, dürften doch zumindest eine Arbeitshypothese haben, warum er da wohl aufgehört hat. Aber nein.