Pro Vegetarisch

Folgender Artikel ist so knapp am Kern vorbei, wie technisch überhaupt möglich.

Vorab: ich esse Fleisch, bin da aber nicht dogmatisch. Bzw., ich würde auch Mehlwurmersatzprodukte essen, oder Shrimps aus den riesigen Salzwassertanks, die die Saudis als Einnahmequelle anlegen werden, wenn das mit dem Öl nicht mehr klappt, insofern fühle ich mich jedenfalls nicht persönlich angegriffen, wenn jemand laut über höhere Fleischpreise nachdenkt. Aber – und das ist das Problem – wenn ein recht wohlhabender Politiker das tut, kommt das in etwa so ähnlich an, als würde ein kinderloser Single von Ehepaaren erwarten, sie sollen Kinder kriegen. Boah, mein Social-Skill geht gerade durch die Decke.

Was wir essen können, was wir essen wollen und was wir essen sollten, sind natürlich politische Fragen. Das führt zu Cem Özdemirs Vorstoß, den Preis für Fleisch zu erhöhen.

Oder, ob wir Kinder wollen. Oder in den Urlaub fahren. Oder ein Smartphone. Das Private ist immer politisch, deshalb muss es gesetzlich kontrolliert werden. Fairerweise muss man sagen, dass man das Problem direkt lösen könnte, indem man Fleischverzehr einfach verbietet. Dies ist also die harmlosere Variante.

»Hummerschalen im Haus werden als Zeichen von Armut und Erniedrigung angesehen.« Das schrieb der Autor John J. Rowan im Jahr 1876.

Jaaa. Und früher sind die Dienstboten in Hamburg auf die Straße gegangen, um durchzusetzen, dass sie von ihren Herrschaften nicht jeden Tag Lachs oder Stör zu Essen bekamen. Hmmm.

Kein wohlhabender Menschen wollte sich dazu herablassen, die »Kakerlake der Meere« zu verspeisen, vor allem wenn er auf eigene Landtiere zurückgreifen konnte. Die massenhaft verfügbare Proteinquelle hingegen war Armen, Bediensteten, Gefangenen und Sklaven vorbehalten.

Ja, wie viele Lachse und Störe steigen heutzutage in der Elbe auf? Sinkt das Angebot, steigt der Preis. Markt regelt und so. Wobei der Hummer insofern Glück hat, dass er komplett im Meer lebt und sein Fang durch Fangquoten und Mindestgrößen regulierbar ist. Störe und Lachse sind auf saubere Flüsse angewiesen, und auf Fischtreppen, die groß genug sind, und DANN brauchen sie noch genau den richtigen Laichgrund – Sand bzw. Schotter, iirc – will sagen, der Mechanismus, der Hummer zu einem Luxusgut hat werden lassen, ist tatsächlich der, dass die menschliche Population schneller wuchs als die hummerische, hat aber nicht zu seiner Ausrottung geführt.

Hummer wurde in den Zügen im ganzen Land serviert, eben weil er so günstig war, aber den Fahrgästen als seltene exotische Speise präsentiert wurde. Die Inlandsreisenden kannten Hummer nicht und kamen in der Reisesituation auf den Geschmack.

Das wird in der Tat dazu beigetragen haben. Und, dass man Hummer länger frisch (lebendig) halten kann als Lachse und Störe. Aber momentan fängt man laut Tante Wiki 100.000 to Amerikanischen Hummer pro Jahr, bedient aber trotzdem eine derartig hohe Nachfrage, dass man hohe Preise verlangen kann.

Ich bringe diesen historischen Exkurs über den Hummer hier nur an, um auf die Möglichkeit einer Denkverschiebung in der Konsumpsychologie hinzuweisen.

Die Hummerpreise sind über die Nachfrage entstanden UND darüber, dass Hummer tatsächlich eine sehr hochwertige, weil eiweißreiche Nahrung ist.

Etwas, das wir als wertvoll empfinden oder das gesellschaftlich als hochwertig und nobel eingestuft wird, scheint uns besser zu schmecken.

In Erzählmirnix Buch über Fettlogik steht zu lesen, dass fett- und/oder eiweißreiche Nahrung bei an sich gleicher Joule-Menge an entnehmbarer Energie schneller ein Sättigungsgefühl erzeugt. Das „Gefühl“ basiert also nicht nur auf den Preis.

Das führt mich zu Cem Özdemirs Vorstoß, den Preis für Fleisch zu erhöhen, um eine neue Wertschätzung zu kultivieren, um das Tierwohl zu verbessern und Landwirte zu unterstützen.

Erstens: ich mache mir tatsächlich mehr Sorgen um die osteuropäischen Hilfsarbeiter in Tönnies‘ Fleischfabriken als um die deutschen Landwirte, da letzteres die eindeutig stärkere Lobby haben. Also: überhaupt eine. Zweitens: höhere Preise haben nicht unbedingt mit Wert“schätzung“ zu tun; und drittens ist es hier recht wichtig, über welchen Hebel die Verteuerung erfolgen soll. Wenn man einfach so hohe Anforderungen an Tiermast, Fleischverarbeitung und Kontrollen stellt, dass man quasi „Bio“-Fleisch produzieren muss („Bio“ an sich ist eh‘ so ein Wieselwort), würden die Fleischpreise steigen, aber das käme tatsächlich bei Mensch und, leicht zynischerweise, Tier an. Demgegenüber erhöht ein höherer MWST-Satz auf Fleischprodukte zwar den Preis, dieser kann aber gar nicht an den Schlachter oder den Bauern weitergeleitet werden; insbesondere erhöht sich dann der Preisunterschied zwischen Billig- und Bio-Fleisch ja auch. Die einzigen positiven Effekte wären, dass die Nachfrage nachlässt, weil einige auf vegetarische Ersatzfleischprodukte oder ganz auf vegetarisch umsteigen. (Hierzu muss ich sagen, dass ich auch kein alkoholfreies Bier trinke, aber offenbar gibt es einen Markt. Bei manchen vegetarischen Fleischersätzen sehe ich tatsächlich einen gewissen Sinn, aber bei Fragwürdigkeiten wie vegetarischen Fleischsalat, najaaa…) Mein Punkt hier ist, dass vegetarische Mahlzeiten generell billiger sind als fleischhaltige, wie Pommesbrötchen. Iirc: 2,30 statt 3,00 €.

Wie könnte man diesen Vorschlag also für einen ungerechten halten?

Weil der Eindruck nicht nur erweckt wird, sondern quasi unvermeidlich ist, dass Schnitzel der neue Hummer würde, während Hummer der alte Hummer bleibt.

Die Frage ist, an welchen Stellschrauben man dreht, um gesellschaftliche Zusammenhänge bestenfalls positiv zu beeinflussen – und wer davon ggf. mehr betroffen ist als andere.

Ja, aber es geht hierbei tatsächlich nur am Rande um gesellschaftliche Zusammenhänge. Es geht um Tier-,  Umwelt- und Naturschutz sowie Arbeitsschutz. Wenn man fürs Schweinezerschnitzeln mehr Geld bekäme, würde dieses Geld automatisch auf den Verbraucher umgelegt. Davon wird allein kein Schwein nur ein Deut glücklicher, aber immerhin sinkt die Nachfrage, und der Preisunterschied zwischen Schweinen aus eher artgerechter und eher nicht so artgerechter Haltung wird geringer, weil es dem Fleischer egal ist, wie glücklich das Schwein mal gewesen war, er will dasselbe Geld. DAS ist tatsächlich der „gesellschaftliche“ Ansatz.

Offensichtlich befinden sich hier bestimmte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und von notwendigen Umweltschutzmaßnahmen in einem vermeintlichen Widerspruch.

Ja, mehr Geld für die Supermarktmitarbeiter bedeutet höhere Preise im Supermarkt, worunter Millionäre am wenigsten zu leiden haben und Arbeitslose am meisten. Trotzdem gelten Supermarktmitarbeiter, die mehr Geld wollen, nicht als Feinde der Arbeiterschaft.

Denn nüchtern runtergebrochen ist eine Forderung, durch welche die Gesellschaft zu einem besseren Konsumverhalten hingenudgt werden soll

Nudging ist an und für sich immer ein Mittel der Mächtigen über die Machtlosen. Könnten Arbeitslose Millionäre nudgen? Hier würde ich tatsächlich aber nicht vom klasischen Nudgen sprechen, weil die Ziele und Methoden ja offen diskutiert werden. Sie kommen bloß halt nicht so gut an.

Fleisch als Statussymbol, das man sich ab und zu gönnt und eben erstmal leisten kann [ist] als Vorstoß unwillentlich klassistisch.

Es ist noch nicht einmal „unwillentlich“, sondern eher zwangsläufig. Früher war es das. Dann wurde Fleisch wirklich für fast alle, auch außerhalb vom Sonntagsbraten, erschwinglich, und das wurde als Sieg gegen Klassenunterschiede betrachtet. Wie soll es das jetzt nicht mehr sein? Analoges gilt für Autos und Flugreisen, fyi. Die einzige Frage ist, ob sich Grüne dessen bewusst sind oder eher nicht.

Eine einkommensschwache Gruppe wird benachteiligt, eben weil sie einkommensschwach ist – wobei eben nicht zugleich kommuniziert wird, dass ihr auch der Zugang zur besseren Nahrung ermöglicht werden soll.

Was hieße hier „bessere“? In der Schule habe ich gelernt, dass man ungeachtet von Kaufkraftunterschieden unterschiedlicher Währungen in verschiedenen Ländern oder sogar verschiedenen Epochen Armut und Reichtum am besten daran erkennen kann, wie viel jemand anteilig von seinem Einkommen für Lebensmittel ausgibt und wie viel für andere Sachen. Aber davon mal abgesehen, bis hierher wäre das alles noch eine etwas philosophisch angehauchte Diskussion, wieso Özdemir, oder die Grünen generell, ihre Ideen etwas schlecht verkaufen, aber hier kommt das, was ich für den „Fail“ des Artikels halte:

Das erscheint mir die Hummerfrage: Ist Fleischlosigkeit eine klassistische Forderung, weil eine vollwertige pflanzenbasierte Ernährung aus nachvollziehbaren Gründen, die nicht von armen Personen verändert werden können, für Reiche einfacher umsetzbar ist als für Arme?

Nein. Ein vollwertige pflanzenbasierte Ernährung ist keine Geldfrage. Es ist nicht so, dass arme Leute nur deshalb Fleisch essen, weil vollwertige pflanzliche Nahrung teurer ist. Natürlich ist jede Art von Nahrung für Reiche leichter umsetzbar, weil alles, was Geld kostet, für Reiche leichter umsetzbar ist. Aber – und deshalb ist das oben Quatsch – wenn Arme wegen gestiegener Fleischpreise auf Veggieburger oder  meinetwegen Veggievollwertnahrung umsteigen müssen, müssen Reiche das noch lange nicht. Wenn Reiche das Doppelte für das Kilo Schweinenacken zahlen müssen, tun die das einfach. Wozu der Geiz? Analog dazu betrachte man mal bitte den Spargel: aufgrund jahreszeitlicher Bedingungen und einer recht aufwendigen – sprich: lohnintensiven, ach, hallo osteuropäische Saisonarbeiter – Ernte ist er eine begrenzte Ressource und ziemlich teuer. Ergo gilt er als Luxus. Dies ist die Folge, nicht die Ursache seines Preises. Selbst, wenn die Erntehelfer hochbezahlte Fachkräfte wären, wodurch sich der Kilopreis verdoppelt und die Nachfrage singt, würden die Reichen das Zeug immer noch, oder sogar jetzt erst recht essen. Weil je teurer, desto luxuriöser, offensichtlich. Hierbei kann ich mich rühmen, die Schwarzwurzel – auch bekannt als der Spargel des armen Mannes – für viel leckerer zu halten: einmal in 10.000 Jahren hat der arme Mann das bessere abbekommen!

Wie kann es gerecht sein, wenn ein Umweltschutz, der allen zugutekommen soll, mit mehr Unfairness für manche verbunden ist?

Ist das nicht immer so? Corona-Schutzmaßnahmen belasten manche Firmen und Branchen mehr als andere. Arbeitsschutzmaßnahmen sind bei manchen Branchen (Bau) ein eigener Beruf (Gerüstbauer), in anderen einfach ein Erste-Hilfe-Koffer irgendwo im Schrank.

Fleisch – wie damals den Hummer – von einem Massenprodukt der Grundversorgung hin zu einem Luxus zu etikettieren, um den Konsum zu regulieren

Das ist so genau nicht passiert. Es wurde als „Luxus“ etikettiert, weil der Preis deutlich über den von vergleichbaren Lebensmitteln stieg, nicht umgekehrt. Die Konsumregulierung, bzw. besser: die Ressourcenregulierung, wurde danach erst eingeführt, um diese recht gute Einnahmequelle nachhaltig nutzen zu können. Die Fundamente der Nordsee-Windkraftanlagen sind übrigens neue Lebensräume für den Europäischen Hummer. Danke Grüne!

unterstellt aber im Umkehrschluss, dass den Einkommensschwachen, die günstiges Fleisch kaufen, das Tierwohl und der Umweltschutz egal sind.

Teilweise ist das auch so, aber das könnte man dessenungeachtet diplomatischer formulieren.

und dazu sind sie auch noch unsolidarisch mit den Landwirten.

Die bessere Analogie wären die osteuropäischen Hilfsarbeiter in der fleischverarbeitenden Industrie. Aber demzutrotz: wenn man tatsächlich sagen würde: „Wir wollen höhere Löhne in der Fleischverarbeitung und bessere Lebensbedingungen für Schlachtvieh.“ statt: „Egal wie – Hauptsache, Fleisch wird teurer.“, käme das evt. etwas besser an. Also: überhaupt gut an.

Es ist eine Idee, die vor allem in einer leistungsorientierten Gesellschaft gut verfängt, die auch lieber glauben möchte, dass die Armut der Armen ohnehin Produkt und Vergehen ihrer individuellen Charakterschwächen sei.

Ja, diese verdammten Grünen mit ihrer Scheiß-Leistungsorientierung. Achnee, das waren doch die Gelben? Bin verwirrt. Ok, jetzt habe ich es: die eher wohlhabenden Schichten, die eher Grüne und FDP wählen, sehen in höheren Fleischpreisen eher keine Katastrophe, weil sie sich diese noch leisten können, wenn sie wollen. Der Vorwurf hier ist das mangelnde Einfühlungsvermögen in die Nöte des kleinen Mannes. Oder der kleinen Frau. Bzw. des kleinen Kindes.

Nicht der einzelne Hartz-IV-Empfangende oder die Familie am Existenzminimum sollte gezwungen werden, das Klima zu retten, das Problem ist struktureller Natur – und es muss daher strukturell gelöst werden, nicht erst beim Endverbraucher.

Ja, nee, ist klar. Das Problem ist hier tatsächlich „strukturell“ – im Unterschied zu vielen Fällen, wo „strukturell“ einfach ein Kästchen im Bullshit-Bingo ist – weil da eine ganze Industrie dran hängt. Aber genau wegen dieser Struktur kann man das Problem nicht lösen, OHNE den Endverbraucher damit zu belasten.

Wir … müssen … eine soziale Gerechtigkeit herstellen, die allen Menschen Zugang zu einer gesunden Ernährung ermöglicht.

Ok, vegetarische Ernährung an sich ist nicht automatisch gesund. Aber es ist in D. ohne weiteres möglich, sich vegetarisch und gesund zu ernähren – B12 gibt’s in der Apotheke – zu Preisen, die mit fleischhaltigen Produkten mithalten können. Insbesondere mit solchen fleischhaltigen Produkten, die mehr als die empfohlene Tagesmenge Antibiotika und Wachstumshormone enthalten. Was nicht heißen soll, dass man gesunde vegetarische Ernährung nicht politisch zu unterstützen braucht, aber das dann als „soziale Gerechtigkeit“ zu främen, ist etwas übertrieben. (Andererseits: die Art und vor allem Geschwindigkeit, wie aus „zu Deinem Besten“ schnell „Solidarität“ wird, und aus „Solidarität“ „Zwang“, lässt mich dergleichen auch mit Argwohn beäugen.)

Mehr denn je brauchen wir heute ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, eine faire Einigung, was wirklich essenswert ist – und was nur Hummer.

Wieso „Einigung“? Und wieso „nur“? Hummer ist eiweißreich, seine Bestände werden glücklicherweise nicht überfischt, und die CO2-Bilanz sieht auch ganz gut aus. Wenn man iosen Sadismus nicht damit füttern will, Tiere bei lebendigen Leibe zu kochen, sollte man keinen Hummer essen, aber echt jetzt? Ich muss mich nicht „einigen“. Nebenbei bin ich auch der Ansicht, dass zwischen Hummerpreisen für Mettigel und Fleisch zu Ramschpreisen ein gewisser „Korridor“ existiert, in dem „man“ am Ende landen könnte.

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