Taz muss auch noch was tazu sagen

Zur Identitätspolitik nämlich.

In der Debatte um Gesine Schwan und Wolfgang Thierse scheint mein Geist zu einer unzeitgemäßen Leistung fähig: Ich verstehe alle Beteiligten. Die Älteren und, man muss es in Teilen auch als Generationenkonflikt lesen, die Jüngeren. Vielleicht lasse ich mir das patentieren.

Jaaaa, ok. Die meisten, die nur einen Beteiligten verstehen, verstehen den anderen nicht etwa nicht, sondern halten iose Argumente für Schwachsinn. Oder verstehen sie mit Absicht falsch.

Was ich nicht tue: Eine Unterteilung in Identitätspolitik und etwas anderes vorzunehmen.

Achtung, es wird feinsinnig. Ich spüre geradezu, dass es mit zwei unterschiedlichen Definitionen gearbeitet werden soll. Aus langjähriger Diskussionserfahrung fühle ich es eben. Das einzige Gefühl, was Männer haben. Außer Durst. Und Hunger. Und Langeweile.

Was sollte dieses andere sein?

Es gibt mindestens zwei Sorten von Identitätspolitik. Einmal „Ich will, dass Leute aus meiner Gruppe in Ämter und Parlamente gewählt oder zumindest aufgestellt werden.“ und „Ich bestreite, dass jemand, der nicht in meiner Gruppe ist, mich vertreten kann.“ Also könnte man die eine und die andere Definition gegeneinander ausspielen. Oder, man setzt gegen Identitätspolitik Interessenpolitik. Das wäre eine Politik, die mehr abstrakte Ziele hat als einfach eine bestimmte Identität zu vertreten, Also meinetwegen wäre eine Vegetarierpartei eine Partei für vegetarische Lebensweise, und nicht dirakt eine Partei gegen die Diskriminierung von Vegetariern.

Wer hat keine politische Identität?

Es geht nicht darum, wer keine politische Identität hat, sondern wer iose politische Ziele daran ausrichtet. Weil man tatsächlich die Interessen der eigenen Gruppe ignorieren kann.

Thierses politisches Denken ist geprägt von seiner Biografie und der Teilung Deutschlands. Das heißt nicht, dass man beim Biografischen stehen bleibt.

Wer ist „man“? Thierse? War er hauptberuflicher Quotenossi, oder traute man ihm zu, auch Wessis, Frauen und Arbeitgeber zu vertreten?

Nur – weshalb ist bei den einen „Biografie“ in Ordnung und bei den anderen nur Mittel zum Zweck?

Wenn jemand ios eigene Biografie als Mittel zum Zweck versteht, ist sie es, wenn nicht, dann nicht.

Thierse wird seine ostdeutschen Lebenserfahrungen und die daraus gezogenen intellektuellen Schlüsse immer in seine Werturteile einbeziehen.

Behauptet Thierse, dass nur Ostdeutsche Ostdeutsche politisch vertreten können bzw. dürfen? Falls ja, sollte er nichts dagegen haben, wenn Schwule, Schwarze und Moslems das auch so haben wollen. Wenn nicht, dann nicht.

Doch bei Minderheiten wird die Biografie plötzlich zum Vorwurf. Sie trübe den Blick. Das Trübende liegt wohl eher daran, dass der migrantische Blick nicht deutsch ist, wie man deutsch gewohnt ist.

Das ist nicht ganz der Vorwurf Thierses. Der Vorwurf bei Thierse ist, dass die Identitätspolitik, wie er den Begriff versteht, sich zu sehr um die eigene Gruppe kümmert. Also stärker, als er sich um die Interessen von Ostdeutschen gekümmert hat. (Man kann SPD-Politik auch Arbeitnehmer-Identitäts-Politik verstehen.)

Minderheiten hatten jahrzehntelang kein öffentlich zur Kenntnis genommenes Geistesleben in diesem Land. Das ist auch ein Versagen meiner Generation.

Ach, ganz vergessen: eine LGTB*+/-Identitätspolitik ist nicht notwendigerweise dieselbe Identitätspolitik wie SOJARME-Identitätspolitik. Dass LGTB-Geistesleben dasselbe ist wie SOJARME-Geistesleben, halte ich mal für völlig absurd. Es gibt eben nicht nur eine Minderheit von 22% Menschen mit Migrationshintergründen, weil die eben nicht eine einzige Gruppe sind. Das ist nur sehr begrenzt die Schuld Thierses.

Thierse selbst eröffnete die Debatte, erklärte die Positionen der Jüngeren, die sich derzeit medial Gehör verschaffen, für zersetzend. Teile seiner Partei positionierten sich gegen ihn, was in einer pluralistischen Demokratie, die er sich ja in seinem Artikel wünscht, normal sein sollte.

Die Gegenpositionen sitzen in einer pluralistischen Demokratie normalerweise in einer anderen Partei. Aber nagut. „Zersetzend“ ist aber auch so ein Kaugummibegriff.

Er reagierte so, wie es aus seiner Sicht die Jüngeren tun: verletzt. Er bot den Parteiaustritt an und sicherte sich so breite Solidarität.

Ja, DAS ist der einzige Schritt, mit dem man sich Solidarität von Sozialdemokraten sichern kann. Die haben so eine dünne Personaldecke. Und auf seine Stimme bei der nächsten Wahl will man bestimmt auch nicht verzichten. So eine 5%-Hürde ist nicht einfach, und man würde ja hart von der FDP ausgelacht werden. Selbst, wenn die es auch nicht schafft.

Die Debatte, die er führen wollte, beendet er dadurch.

Nein, wieso? Bzw., man muss sie ja nicht mit Thierse persönlich führen.

Die Generation Thierse und Schwan ist es gewohnt, mit Einwandererkindern meiner Generation zu tun zu haben. Wir haben jahrelang freundlich dankbar genickt, wenn Deutsche sagten: „Ja, auch Ausländer sind Mitbürger.“

Eigentlich haben ganz viele Einwanderer und ihre Kinder SPD gewählt, weil Einwanderer meistens sogenannte Gastarbeiter waren, und die SPD eben Politik für Arbeiter machte. Dass z.B. Deutschtürken eher Erdogan (da fehlt ein Sonderzeichen) wählen als Türkeitürken legt nahe, dass diese zumindest nicht besonders links sind. Oder sie wollen den Türken in der Türkei einen auswischen.

Wir haben nicht gefragt: „Kriegen wir dann auch den Job im Ministerium?“

Ich glaube, wenn man so fragt, kriegt man bestimmt keinen. Aber ja, Arbeiterkinder haben es in D. schwer, Bildungsbürgerarbeit zu kriegen.

Oder: „Wenn unsere Eltern Mitbürger sind, warum kämpft ihr dann nicht für die doppelte Staatsbürgerschaft? Wann dürfen sie wählen?“

Weil man auch mit einfacher Staatsbürgerschaft wählen kann. Doppelte Staatsbürgerschaft heißt z.B., dass man einerseits SPD wählen kann, um den Rechten in D. einen auszuwischen, und andererseits Erdogan, um den Rechten in der Türkei zu schaden. Den Bürgerrechten.

Wir wurden selbst erst spät deutsche Staatsbürger. An den Unis waren wir noch Ende der Neunziger unter einem Prozent. Mit uns hatten linke Deutsche leichtes Spiel.

Na, sowas. Ostdeutsche durften schon Anfang der Neunziger wählen. Warum eigentlich? Hmm. Achja, weil der Staat, in dem sie geboren wurde, abgewickelt wurde und sie sonst staatenlos geworden wären.

Gute linke Deutsche, das waren jene, die Humanität predigten, aber was Teilhabe angeht, nie Konsequenzen zogen.

Gaaaanz allgemein, es ist Sinn eine repräsentativen Demokratie, auch solche Menschen zu vertreten, die einer anderen Gruppe angehörten. Engels war jetzt nicht direkt ein Arbeiterkind, hat aber Arbeiterinteressenpolitik gemacht.

Ja, die Jüngeren sind wütend. Auch mir ist das manchmal zu popkulturell, zu laut und zu sehr USA.

Solange sie nicht zu RAF werden, ist ja alles gut. Ich würde den Rechten diese Steilvorlage einfach nicht gönnen.

 Doch es ist trotzdem möglich, sie zu verstehen, ihren Argumenten etwas entgegenzusetzen, statt ihnen nur zu unterstellen, sie wollten die Gemeinsamkeit zersetzen.

Ob sie es wollen, ist egal. Wenn sie gegen Strukturen sind, sind sie gegen die Struktur der Gemeinsamkeit.

Es ist möglich, ihnen recht zu geben, wo die Fakten auf ihrer Seite sind.

Der Sinn und Nutzen der Genderverschlusslaute ist eher unerforscht und daher kein „Fakt“. Ergo muss Thierse ihnen in dem Punkt nicht recht geben. Wenn dass das Ausschlusskritrium ist, ist das halt so. Aber dann spaltet sich halt die SPD an exakt dieser Linie.

Es wundert mich sehr, dass ein Politiker wie Thierse, der selbst viel Widerstand geleistet hat, nicht sagen kann: Meine Positionen sind mit 77 Jahren vielleicht aus eurer Sicht alt.

Mich nicht. Er leistet jetzt halt Widerstand gegen eine Politik, die er für falsch hält. Ungeachtet dessen, wie falsch oder richtig man diese Politik findet, ist Widerstand halt Widerstand.

Thierse und Schwan wollen hingegen stur recht behalten und suchen den Applaus der Mehrheit.

Kann sein, dass die stur sind. Aber natürlich suchen sie den Apllaus der Mehrheit, weil man nur mit Mehrheiten in die Regierung kommt. Ein etwas sonderbarer Vorwurf gegen Politiker.

Wo ist die Gelassenheit des Alters, auf die Jugend zuzugehen und zu fragen

Diese Gelassenheit des Alters gibt es nicht. Hat es nie gegeben. Und wird es auch nicht plötzlich durch spontane Urzeugung geben, weil Wörter nicht die Wirklichkeit formen.

Das Schaffen von „Safe Spaces“, die öffentlich finanziert werden sollen – eine demokratische Öffentlichkeit funktioniert aber nicht wie eine Selbsthilfegruppe.

Bald ist zumindest die SPD eine Selbsthilfegruppe. Ein kleiner, intimer Kreis, wo alle per Du sind und über hre Probleme und Gefühle reden können.

Die Wut der Jugend ist eine tickende Zeitbombe. Die Wütendsten sind nicht auf Twitter. Die Wütendsten sind jene, die denken: „Hanau, das hätte meine Schwester, mein Bruder sein können.“

Oder sie selbst? Es ist übrigens nicht „die“ Jugend, sondern der Teil der Jugend mit einem Migrationshintergrund, und davon dann der Teil, der nicht gerade zum Bildungs- oder Großbürgertum gehört. Ja, ich spalte, ich Böser.

Thierse und Schwan könnten doch einmal erklären, warum die Teilhabe aller nicht jahrzehntelang oberste Priorität hatte?

Weil Agenda 2010 Priorität hatte? Nur so als Vermutung. Was jetzt nicht heißen soll, dass das so ein besseres Projekt gewesen wäre, um wütende Jugendliche damit zu beruhigen. Andererseits, weil Minderheiten halt unterschiedlich sind, wird anderswo diskutiert, ob man Politik für Schwule und Lesben machen kann, ohne gleichzeitig deutschtürkische Wähler zu verlieren.

Und Opposition ist eben Mist.

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