Es gibt Leute, die die nicht kennen, weil sie nach 1997 geboren wurden, aber einen Führerschein haben und wählen gehen und so.
Trotzdem in eine Online-Zeitschrift, die „Jetzt“ heißt statt „damals“.
Hey, toll.
Die 90er Girlband Tic Tac Toe ist auch heute noch ein Begriff. Viele kennen mindestens das Video im Netz, in dem die Rapperin Lee mit Tränen in den Augen ihre Bandkollegin Ricky anbrüllt: „Wenn wir Freunde wären, dann würdest du so einen Scheiß überhaupt nicht machen. Du machst uns alles kaputt.“
Ich kenne mehr die Lieder. Aber ja. Ich erinnere mich. Aus Ereignissen wird Geschichte, aus Geschichte Sagen und Legenden, und aus denen dann Mythen. 1997 war übrigens das Jahr mit dem Eheparagraphen. Ein anderes Jahrtausend. Grauste Vorzeit. Allergrauste aller Vorzeiten.
Leider war dieser Tag auch das Ende der Band. Zumindest das Ende ihrer goldenen Erfolgszeiten.
Immerhin wurde die eine später von Anke Engelke veräppelt. Danke, ANKE!
Selten sprechen wir heute darüber, wie weit voraus Tic Tac Toe ihrer Zeit waren, wie sie die deutsche Popkultur geprägt haben, wie sie Themen behandelt haben, die zum einen noch heute aktuell sind und zum anderen erst jetzt wirklich von Mainstram und in feministischen Debatten gewertschätzt werden.
Der Mainstream schätzt sie nicht mehr, sonst würde es jetzt ein Revival geben. Oder Remakes. Oder irgendwas von denen, mit denen oder zumindest Hommagen. Und wenn „wir“ so selten darüber reden, dann vllt., weil die tatsächlich nicht ideologisch waren, sondern frech – denn frech kommt weiter – und tatsächlich auch witzig waren. Also, im Unterschied zum Feminismus.
Noch weniger sprechen wir darüber, wie wichtig die Band für junge Frauen und Teenager und besonders für viele junge Schwarze Menschen und People of Color war.
Ja, Rap auf Deutsch! Mainstreammäßig! Jackpot!
Tic Tac Toe war eine Band, die es so bis dato in Deutschland nicht geben hat.
Ja, jede Band ist etwas anders. Aber was es auch noch nie gegeben hat, ist eine deutsch-singegende Boy-Band. Nur, weil etwas noch nie zuvor gegeben hat, ist es nicht unbedingt gut.
Schimpfwörter in dieser Form gab es bis dato in der deutschen Mainstream-Musik noch nicht.
Tja. Jemand, der innerhalb dreier Sätze zweimal „bis dato“ schreibt statt „bis dahin“ oder „vorher“ hat einen begrenzten und eher bildungsbürgerlichen Wortschatz und fühlt sich schon deshalb unterlegen.
Die Plattenfirma BMG wurde sich vor dem ersten Release unsicher und auch der Aufschrei aus der Mitte der Gesellschaft war groß: Manche wollten „Ich find dich scheiße“ verbieten und Radiostationen wollten ihn nicht spielen.
Achwas? Provokationen führen dazu, dass Leute provoziert werden? Nein! Und Wasser ist nass? Doch? Ich kann mich an Ärzte-Titel aus diesem Jahrtausend erinnern, wo eine ganze Strophe rausgeschnitten wurde, weil da die BILD und Titten drin vorkamen. Also, eines davon war bestimmt der Grund. Wetterbericht ist kein Trigger.
Eltern sorgten sich um ihre Kinder und einige pubertierende Heterojungs fühlten sich angesichts der drei selbstbewussten Frauen, die offen ihre Meinung sagten und ihnen den Mittelfinger zeigten, in ihrer Männlichkeit angegriffen.
Die nicht mehr pubertierenden Heterojungs fandens dafür gar nicht so verkehrt.
„Wer hat Angst vor schwarzen Frauen? Keiner, Keiner. Dann mach dich doch nicht selbst zum Clown Kleiner, Kleiner. Wer hat Angst vor N***küssen? Keiner, keiner. Denn das sind die besonders Süßen“
Ja. Schimpfwörter für Kunst verwenden. Jeah! Emanzipation, Provokation, Selbstermächtigung. Und dann alles ver*******.
Wenn die Band Die Ärzte schon vor zehn Jahren solche Wörter benutzen durfte, dann können wir ja heute wohl auch diese kleinen süßen Worte ‚Scheiße’ oder ‚Verpiss dich’ benutzen. Das ist die Sprache, die die Jugend spricht.“
„Claudia hat jetzt ’nen Mann und fängt ein neues Leben an…“ Wer jetzt die Melodie im Ohr hat, weiß, dass die Wörter bei Die Ärzte eigentlich noch das Harmlosere waren, bzw. sind. Weil die sich offenbar besser vertragen, gibt’s die nämlich noch. Scheiß Männerfreundschaft.
Schauen wir nochmal auf das Jahr 1995, das Gründungsjahr von Tic Tac Toe. Einem Jahr, in dem Eurodance angesagt war und besonders Boybands große Erfolge feierten. Im Sprechgesangwaren es weiße, vorbildlich sozialisierte Männer wie Die Fantatischen Vier oder Fettes Brot, die im Mainstream Anerkennung fanden und von den Radiostationen gespielt wurden.
Die da? Jein.
Es gab wenig Popmusik mit einer Message. Und das schon gar nicht von Schwarzen Frauen.
Rund ein Prozent aller Deutschen sind Schwarze. Daraus folgt, dass nur ein Prozent aller Popmusiker in D. schwarz ist. Also auch nur ein Prozent aller Popmusikerinnen. Und dieses Prozent war eben genau eine Band mit exakt drei Frauen. Aber gut, dass die wenigstens eine Message hatten.
Auch von den Spice Girls, die den Begriff „Girl Power“ etablierten, gab es noch keine Spur.
Hachja, das waren halt noch bessere Zeiten.
Oder auch überhaupt war es neu, dass Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse zum Ausdruck brachten. Eine Sache, die bei heutigen Musikerinnen wie Juju, Shirin David oder Katja Krasavice als Fortschritt und positive Entwicklung auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter gesehen wird.
Ähem. Like Madonna, talking about your needs for the very first time, like Ma-doo-o-oho-na, talking about your nee-eeds, for the first time. Madonna, Queen of Pop. Gottkaiserin of all Massages.
Immer wieder kritisierten Tic Tac Toe auch den Kapitalismus und verstanden sich dabei klar als Sprachrohr für die weniger Privilegierten und sozial Benachteiligten unser Gesellschaft, wie zum Beispiel im Song „Haste was biste was“, wie auch der Titel schon vermuten lässt.
Und aus Protest gegen die sehr marktwirtschaftlich orientierte Musikindustrie haben sie letztere auch relativ schnell boykottiert. Im Unterschied zu den Fetten Vier und dem Fantatischen Brot.
Zur Veröffentlichung ihres zweiten Albums „Klappe die 2.“, waren Tic Tac Toe bereits Superstars. Und wie das mit Superstars so ist, sucht die Boulevardpresse oft nach Schmutz, den sie in Lee’s Vergangenheit glaubten gefunden zu haben.
Niemals, also absolut unter keinen Umständen, sucht die Boulevardpresse nach tollen Sachen, um schwarze Frauen, weiße Männer oder sonstwen positiv darstellen zu können. Das soll keine Entschuldigung sein, aber natürlich wird so getan, als ob das nur Schwarzen oder Frauen passiert.
Auch hier können wir froh sein, dass viele Debattenheute weniger verklemmt und sexistisch geführt werden.
DIE Debatten bräuchten mMn gar nicht geführt werden, aber jeder, wie soe meint. Oder Jede. Oder Alle.
„Warum?“ thematisiert den Absturz einer Drogengebrauchenden aus der Perspektive einer Freundin, und „Bitte küss mich nicht“ thematisiert Kindesmissbrauch.
Gut, bei Madonna kommt das im Buch vor. Aber „Drogengebrauchenden“ statt „Drogensüchtigen“? Wenn ich Insekten mit Tabaksaft töte, gebrauche ich auch Drogen. Und wenn ich dabei von der Leiter falle, ist das der Absturz eines „Drogengebrauchenden“. Warum?
Sie dissten Machos in „Mr. Wichtig“ und reduzierten einen Mann mit „Du hast den Schönsten“ auf sein Geschlechtsteil – auch eine Sache, die wir bis dahin im deutschsprachigen Raum nur von Männern in Bezug auf Frauen kannten.
„Mister Wichtig“ ist wirklich lustig. Dass Männer auf ihre Geschlechtsteile reduziert wurden, hatten die bei „Jetzt“ vorher halt nicht mitgekriegt.
Heute würden wir das „Tone Policing“ nennen – eine Ablenkungstaktik, in der jemand den Ton, die Wortwahl und die Emotionen des Gegenübers angreift, statt auf die Inhalte einzugehen.
Ja, die machen diese ganzen Wortfindungsfehler mit Absicht, damit ich die kritisieren, damit die sagen können, dass ich was gegen lateinische Phrasen hätte, dabei habe ich nichts gegen lateinsche Phrasen, einige meiner besten Freunde sagen „Prosit“ – wo war ich? Achja, drei zusammengecastete Frauen, die ihre Lieder nicht selbst schrieben, sind nicht die Personen, die diese Inhalte entwickelten. Das soll die künstlerische Leistung der Interpretinnen nicht schmälern, aber deshalb heißt es Interpretinnen: kommt aus dem Lateinischen, Interpres ist der Übersetzer (eines Textes), nicht der Urheber.
Tic Tac Toe waren stolz, nicht weiß zu sein. Sie haben nicht versteckt, aus welchem Umfeld sie kamen und wie sie sozialisiert wurden.
Ruhrgebiet. Die Ruhr hat einen Nebenfluss, der etwas größer ist als die Ruhr an der Stelle, aber rassitischerweise nur als „Neben“fluss zählt. Er heißt aber immerhin antisexistischerweise die Neger. Ansonsten wäre es jetzt das N-Wort-Gebiet. Kannste Dir nicht ausdenken, sowas.
Sie haben sich nicht angepasst, um dem weißen Deutschland besser zu gefallen, und sie haben nicht versteckt, dass sie sauer waren und sich auch von Männern nichts gefallen ließen.
Ja, herzlichen Glückwunsch. Schade, dass ihnen ihre internen Streitigkeiten wichtiger waren als Deutschland im allgemeinen und Männern im speziellen nicht zu gefallen.
„Eltern sorgten sich um ihre Kinder und einige pubertierende Heterojungs fühlten sich angesichts der drei selbstbewussten Frauen, die offen ihre Meinung sagten und ihnen den Mittelfinger zeigten, in ihrer Männlichkeit angegriffen.“
Na, projiziert da jemand mal wieder hemmungslos seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe auf andere? Meines Wissens machten pubertierende Heterojungs eine nicht unerhebliche Käuferschicht von Tic-Tac-Toe-Scheiben aus. Weil… naja… Mitte 90er und Rap war irgendwie… gerade mächtig in und so; vor allem bei pubertierenden Heterojungs. D’ough!
Korrekt übrigens deine Einleitung zur Entstehung von Mythen. Z. B. dem Mythos, Tic-Tac-Toe hätten Schimpfwörter im Popbereich erst alltagstauglich gemacht. Das war ein Narrativ, welches die Mädels damals nicht zuletzt selbst beförderten und das schon damals als unsinnig betrachtet wurde. Nur mal so, ohne googeln, aus dem Ärmel geschüttelt: Wann kam „Schrei nach Liebe“? 91 oder 92? Ich sag nur „Ohoho – Arschloch!“
Und geradezu lächerlich, wie man zeitgeistkonform versucht, die Songs in das bei den „Antisexisten“ so irritierend beliebte Schema vom „Frauen gegen Männer“ zu pressen. Ich hab neulich im Radio erst wieder „Ich find dich Scheiße“ gehört; zum ersten Mal seit zig Jahren. Und ich fand den Text aus meiner inzwischen auch männerrechtlich geprägten Sicht und im Vergleich zu dem, was man heutzutage so gewohnt ist, erfrischend fair. In der ersten Strophe kriegen machohafte Angebertypen ihr Fett weg, in der zweiten sich weiblich äquivalent verhaltende Snob-Tussies. Es werden also Beispiele sowohl von Männern als auch von Frauen gezogen und vor allem wird nicht pauschal gegen „die Frauen“ oder – woran man sich resignierend so langsam zu gewöhnen droht – gegen „die Männer“, sondern es wird sehr klar gegen Leute ausgeteilt, die sich eben so verhalten wie beschrieben, ohne das im Text irgendwo an deren Geschlecht festzumachen. Es werden also Menschen aufgrund ihres individuellen Verhaltens bewertet und nicht – aus heutiger Sicht schier unvorstellbar, ich weiß – aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit.
Obwohl ich, damals selbst noch pubertierender Heterojunge, nicht viel mit Tic-Tac-Toe anfangen konnte, schlicht weil ich die Musikrichtung noch nie besonders mochte, finde ich es unfair, sie so verkrampft in die Narrative des heutigen Zeitgeistes zu pressen. Denn obwohl ihre Texte sicher nicht geprägt waren von allzu großem Tiefgang, waren sie dennoch in ihrer Weltsicht und -darstellung um Längen komplexer, als der ganze sich neofeministisch gebende, notorisch männerfeindliche Müll, der heutzutage scheinbar speziell bei weiblichen Interpreten zur zwingenden Pflichterfüllung (mindestens ein Song pro Album) gehört, wenn sie mit ihrer Musik groß rauskommen wollen.
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Im Video zu „Ich find dich scheiße“ schießen sie allein gegen eine Frau. Aber wie gelungen die Spaltung funktioniert: „Jetzt“ instrumentalisiert Tic Tac Toe um gegen Männer zu schießen, und ich will als Antwort gegen diese Band austeilen. Verblüffend, wie gut Teilen und Herrschen funktioniert…
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Erstes Album 1995, Auflösung 1997?
Laut Wikipedia zwei Studioalben.
Verglichen mit den meisten Metal-Bands, die ich bevorzuge, sind das ja Eintagsfliegen.
Überhaupt, warum eigentlich „band“? Gehören da nicht Instrumente zu?
Laut Wikipedia nennt man sowas wohl „crew“…
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Aber was es auch noch nie gegeben hat, ist eine deutsch-singegende Boy-Band.
Tokio Hotel. HAB ICH DICH!!! Naja, „Monsun“ gibt es auch auf deutsch.
Was die sexuellen Bedürfnisse angeht: Auch in den 90ern war es schon lange so, dass Männer gute Liebhaber sein wollten: „Wie war ich?“ -> er erbringt eine Leistung, sie bewertet.
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Oh, richtig.
Das muss ich irgendwie verdrängt haben.
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