Die Linke von heute ist auch nicht mehr, was sie mal war

Und zwar, weil sie beim Intersektionalismus viel über Geschlechter, Sexualität, Hautfarbe und dergleichen nachdenkt, aber nicht mehr über Klasse.

Und zwar nicht, weil sie der ehrlichen Ansicht wäre, dass es heute in der westlichen Welt, oder jedenfalls in D., keine relevanten Klassenunterschiede mehr gäbe, sondern weil sie nicht mehr wissen, was dieses „Links“ eigentlich sein soll.

Um das mal zu rekapitulieren, Sozialismus, Kommunismus, Marxismus und artverwandte Ideen, mit all ihren verschidenen Theorie-Gebäuden dahinter (Rechte geben sich nicht annähernd so viel Mühe) und den tollen Versuchen, diese in die Praxis umzusetzen, hatten ursprünglich alle dasselbe Problem vor Augen. Und dass das jetzt nicht mehr „vor Augen“ ist, ist vllt. das Problem mit der heutigen Linken.

Das Problem war die enorme Schere zwischen reichen Besitzern von Industrien und armen Arbeitern, die darin arbeiteten. In 15-h-Schichten. Unter albernsten Arbeitsschutzmaßnahmen: „Wenn ihr schon tödlich Unfälle baut, dann passt doch bitte auf, dass die Produktionsmittel dabei nicht kaputt gehen. Die gehören Euch doch nicht!“ Für gerade genug Geld, dass die das machten. Wenn man sonst über das finstere Mittelalter herzieht, so ganz war die Verbesserung infolge der Industrialisierung nicht immer erkennbar.

Wieauchimmer, für die Linken des 19. Jhdts. jedenfalls waren Arbeiter und Fabrikdirektor Feinde. Und nicht nur die, sondern alle Verwandten und Nachbarn des Arbeiters Feinde aller Verwandten und Nachbarn des Fabrikdirektors, die jeweils zwei unterschiedliche Klassen bildeten, Proletariat und Bourgeoisie. Und alle Ideen und Theorien der damaligen Linken orientierten sich an dieser Achse.

Heute sieht die Lage anders aus: das Proletariat in der Form wurde größtenteils ins Ausland ausgelagert, die Leute in Bangladesh, die Sachen für Kik zusammennähen, tun das unter ungefähr denselben Bedingungen wie die früher in Europa und den USA. Die Werktätigen aus westlichen Industrienationen heute haben deutlich bessere Arbeitsbedingungen, kriegen mehr Geld, sind umgekehrt auch besser ausgebildet und haben es generell besser als ihre Vorfahren 100-150 Jahre zuvor. Auch die Klassenunterschiede sind kleiner; das Kind von Fabrikarbeitern kann Abi machen, studieren und später selbst zur Chefetage gehören. Will nicht sagen, dass es damit genauso leicht hat wie das Kind der Fabrikbesitzer, aber extrem leichter als praktisch keine Chance, wie das Arbeiterkind zu Kaisers Zeiten. (Wer jetzt an Tönnies denkt: der _importiert_ Proletarier…)

Insofern sind die Linken ein Stück mit der Zeit gegangen: der Klassenunterschied ist nicht mehr so krass, und die Reich/Arm-Grenze ist inzwischen eine postkoloniale Ländergrenze. Was man ja mal berücksichtigen könnte.

Ändert aber nichts daran, dass Arbeiterschaft und Eigentümer zwar keine Feinde, aber immer noch Gegner sind. Dass das Elternhaus eines Kindes Einfluss auf dessen berufliche Zukunft hat. Kurz, dass wir in keiner klassenlosen Gesellschaft leben.

Und das müsste man intersektional berücksichtigen, wenn man konsequenz wäre.

Stattdessen passiert folgenes:

  1. Beobachtung I: die reichsten und einflussreichsten Menschen in D. sind weiße, alte Männer
  2. Schlussfolgerung I: weiße, alte Männer haben überproportional viel Macht und Geld
  3. Definition: Macht und Geld sind Privilegien
  4. Schlussfolgerung II: weiße, alte Männer sind privilegiert
  5. Beobachtung II: an den Fließbändern stehen hauptsächlich weiße Männer, viele davon alt
  6. Schlussfolgerung III: die Fließbandarbeiter sind ebenfalls privilegiert, offenbar werden sie von ihren Arbeitgebern Frauen, Schwarzen und anderen Gruppen vorgezogen
  7. Konsequenz I: wir solidarisieren uns nicht mit den Fließbandarbeitern, sondern fordern von ihnen, dass sie uns von ihren Privilegien abgeben – also Teilhabe am Vorstand
  8. Konsequenz II: Gerechtigkeit ist erst erreicht, wenn auch schwarze Frauen zur Bourgeoise und Fabrikantengemeinschaft gehören

Der Fehlschluss liegt zwischen den Punkten 4 und 5: alte weiße Männer, oder neudeutsch wham, sind keine Solidargemeinschaft oder Interessenverband. Diejenigen unter ihnen, die die meiste Macht und das meiste Geld haben, haben offensichtlich kein Interesse daran, Macht und Geld oder sonstwas mit anderen zu teilen, auch nicht mit anderen weißen Männern ungeachtet des Alters und der sexuellen Orientierung. Dass der Arbeiter und sein Chef vier Merkmale gemein haben – Alter, Hautfarbe, Geschlecht und Sexualität – nutzt der Frau vom Chef mehr als dem Arbeiter. Der Arbeiter hat sein Gehalt, seine Arbeitsschutzmaßnahmen, seine Arbeitszeiten seinen Urlaub, seine Rentenansprüche, Kündigungsschutz und sonstigen Vorteile, die er vor hundert Jahren nicht ansatzweise gehabt hätte, gegen den Widerstand der Fabrikanten erstritten, und nicht irgendwie geschenkt bekommen. Kurz gesagt: dass einige alte, weiße Männer Privilegien haben, bedeutet nicht, dass alle alten weißen Männer Privilegien haben.

Wenn also Linke Intersektionalisten Arbeitern quasi deren Wham-tum zum Vorwurf machen, sind das quasi drei Fehler auf einmal:

  1. theoretisch: die Kategorie der Klasse wird nicht mehr mitgedacht, wodurch der Intersektionalismus unvollständig wird.
  2. moralisch: wenn manche Menschen mit bestimmten Geschlecht und Hautfarbe bestimmte negative Eigenschaften haben, aber man macht allen Menschen mit diesem Geschlecht und dieser Hautfarbe diese Eigenschaften zum Vorwurf, ist das Sexismus bzw. Rassismus.
  3. praktisch: Arbeiter sind eigentlich die Hauptwählergruppe linker Parteien; diese zu vergraulen, ist eine besonders effektive Form, sich ins Knie zu schießen.

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