Dank Arne und Evo-Chris bin ich hierauf gestoßen.
Ist das Leben nicht schön?
Als im vergangenen Herbst die ersten Trailer für den Blockbuster „Joker“ zu sehen waren, wurde sofort die Frage diskutiert: Ist „Joker“ ein Incel?
Offensichtlich ja – er ist wohl schon an sexuellen und/oder romantischen Beziehungen interessiert, seine Erfolge auf dem Gebiet sind eher naja. Jetzt ist Erfolg beim anderen Geschlecht aber nicht ansatzweise sein Hauptziel, seine Probleme sind deutlich weiter gestreut, und an der Stelle, wo er wirklich über sein Leben und die Gesellschaft, in der es stattfindet, herzieht, kommen Mann-Frau-Beziehungen gar nicht vor. Merke: Incels sind nicht zwangsläufig Frauenhasser.
Verherrlicht diese Figur, dieser verbitterter Außenseiter, der weiße, einsame und von Frauen zurückgewiesene Mann eine Art gerechtfertigte Gewalt?
Wieso sie das jetzt auf „von Frauen zurückgewiesen“ reduziert? Hat sie den Film nicht gesehen? Er wird von allen möglichen Menschen zurückgewiesen, einige davon sind Frauen. Was ihm fehlt, ist eine Vaterfigur. Gleich zwei Kandidaten für diese Rolle weisen ihn zurück. Und das „traumatische Kindheit“-Klischee, das jemanden böse werden lässt, ist etwas, was man als Automatismus oder „Ausrede“ bei fiktiven Schurken sicher hinterfragen sollte, aber dass Väter für Kinder wichtig sind, ist eine Tatsache, die hier KOMPLETT ignoriert wird.
In der Realität gingen diese Sorgen so weit, dass in vielen amerikanischen Kinos bei den Premieren Zivilpolizisten saßen, um Anschläge zu verhindern.
Schön, dass nichts passiert ist, woll? Gratiskarten.
Ungewollt zölibatär lebende Männer radikalisieren sich
Manche ja, die meisten nicht. Die Zahl der Incels wird offenbar unterschätzt, wenn der Anteil der radikalen Incels so hoch eingeschätzt wird.
Der Frauenhass der Incel-Bewegung hat Menschenleben gefordert.
Unter den Opfern waren auch Männer?
2014 zum Beispiel starben bei einem Incel-Anschlag in Santa Barbara, USA sechs Menschen, 2018 in Toronto wurden von einem bekennenden Incel zehn Menschen getötet.
Es fehlt der übliche „Frauen besonders betroffen“-Hinweis. Wenn ein Weißer lauter Weiße und Schwarze erschießt, wird das ja auch nicht auf Rassismus zurückgeführt. (Und jaaa, es gibt auch Incels, die was gegen Männer haben, die mehr Erfolg bei Frauen haben. Und JA, das spielt bei diesen Amokläufen wohl auch mit rein. Aber dann sind Männer ja ebenso gefährdet, was mal wieder niemanden interessiert, weil Kanonenfutter ja schon ihr Job war, als es noch keine Kanonen gab.)
Und auch der antisemitische Attentäter von Halle ließ während seines livegestreamten Attentats ein frauenfeindliches Lied aus der Incel-Szene laufen.
Ist das jetzt schlimmer als Gangsta-Rap?
Incels, das sind meist junge Männer zwischen 15 und 30, die keine romantischen oder sexuellen Beziehung zu Frauen haben. Sie sind unfreiwillig zölibatär, involuntary celibates, kurz: Incels.
Man beachte: das ist ein Begriff für alle. Inklusive Frauen und Angehörige sonstiger Geschlechter. Incels verwenden ihn auch für solche, die keine sexistischen Ansichten haben.
Sie organisieren sich online und suchen die Schuld für ihre Situation beim globalen Feminismus und hassen daher Frauen.
Ja, manche organisieren sich online. Aber sie suchen die Schuld überall, nicht nur beim Feminismus. Und einige von ihnen hassen Frauen.
Das sagt die Soziologin und Publizistin Veronika Kracher, die sich auf die Incel-Ideologie spezialisiert hat und Ende September das Buch „Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ veröffentlicht.
Ok. Offensichtlich können Frauen sich über die Probleme von Männern äußern. Merken wir uns diese Erkenntnis für die nächste Abtreibungsdebatte.
„Es ist auf jeden Fall eine inhärente anti-feministische, frauenfeindliche, patriarchale Ideologie, weil sie ja davon ausgeht, aufgrund meines Geschlechts, aufgrund meines Phallus steht mir quasi die Herrschaft über eine Frau zu.“
Erstens, gemeint ist wohl: „inhärent anti-feministische.. etc. Ideologie“.
Zweitens, es ist keine „Ideologie“, wenn man findet, das der Erfolg beim (von Männern aus gesehenen) anderen Geschlecht sehr ungleich verteilt ist.
Drittens, die meisten, die ich kenne, sagen „Penis“ oder „Schwanz“.
Das Internet und die Popkultur spielen bei der Radikalisierung eine große Rolle – nicht nur im Blockbuster „Joker“. Die Reality Show „The Pickup-Artist“ zum Beispiel lief Ende der Nuller Jahre auf VH1.
Nie gesehen, aber na gut.
Sexuell nicht erfolgreiche Männer versuchen mit Flirt-Techniken, Pick Up-Artists, also Verführungskünstler zu werden.
Aaalso, hiermal eine Internetseite für organisierte Incels. Man beachte auch den Kommentar. „Verführungskünstler“ zu werden, wenn man noch nichtmal „Verführungshandwerker“ ist, ist sicher anmaßend und albern. Insofern ist die Kritik am Pick-Up also schon berechtigt. Andererseits sind nicht alle PUA Incels oder Ex-Incels, und Incels sind nicht nur frustierte Möchtegern-PUAs.
Diese erlernbaren Techniken, so die Idee, muss man nur richtig anwenden, damit die als Zielobjekte bezeichneten Frauen sich quasi automatisch verführen lassen.
Ja, das „automatisch“ ist Quatsch. Aber dass Frauen jetzt nicht ganz so unberechenbare Wesen sind, wie sie manchmal dargestellt werden, stimmt ja sicher auch.
Dass dieser frauenfeindliche Ansatz massenweise nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt hat, zeigt sich an dem Internetforum Pick Up Artist Hate, in dem Mitte der Nuller Jahre viele enttäuschte Männer zusammenfinden, sagt die Publizistin Veronika Kracher.
Warum es wohl kein I-Net-Forum Pick Up Artist Love gibt? Weil es nie klappt, oder weil es, wenn doch, darüber nicht so viel Diskussionsbedarf gibt?
„Also anstatt zu der logischen Erkenntnis zu kommen, dass vielleicht das Problem diese Pick Up Artist-Techniken sind, kam dann der Gedanke auf, dass man selbst zu unattraktiv sei, dass diese Techniken bei einem selber wirken würden.“
Ja, ist doch schön. Nicht anderen die Schuld geben, sondern den Fehler bei sich selbst suchen. Und Aussehen spielt eine Rolle. Ich diskutiere gerne darüber, ob die Schönheitsansprüche gegen Frauen härter, unfairer oder einfach schwieriger zu erfüllen sind als die gegen Männer, aber es werden welche an beide Geschlechter gestellt.
Ich glaube, eine große Rolle spielen aber auch generell so popkulturelle Tropen, die einfach suggerieren, dass man der Richtige für eine Frau sei, obwohl sie anfangs nein sagt.
Wieso sollten ein Film oder eine Serie mir suggerieren, ich wäre der Richtige für eine bestimmte Frau? Höchstens, dass jeder Topf einen Deckel findet, aber gibt es nicht ZIG Fälle, wo jemand erst mit dem/der Falschen liebäugelt, bevor hinterher die einzig wahre Paarung (One True Pairing to rule them ALL!) zustande kommt? Und selbst dann denke ich: „Was hat das mit mir zu tun?“
So klassische Beispiele dafür sind Serien wie „Friends“ oder meine persönliche Hass-Serie „The Big Bang Theory“.
Zu „Friends“ bitte bei Alles Evolution nachlesen, aber zu BBT? Euer ERNST?
Das sind alles so popkulturelle Produktionen, in denen es darum geht, dass der männliche Protagonist das Projekt der Begierde hat, sie weiß das halt nicht, sie sagt anfangs nein, aber er lässt nicht locker, weil es ist ja seine Traumfrau, und das Narrativ gibt ihm Recht.
Penny und Leonard? Dieselbe Penny, die – frisch eingezogen – ihre neuen Nachbarn erstmal um einen Gefallen bittet? Und das Narrativ habe ich irgendwann nicht mehr verfolgt, weil ich Penny und Leonard nun gar nicht für besonders zueinander passend halte. Und weil ich – bei allen Gemeinsamkeiten, die ich mit denen habe – die vier Jungs für etwas zu überzogen und karrikaturhaft halte, um mich richtig mit ihnen zu identifizieren. Aber ja, die Jungs haben diverse Eigenschaften von Incels wie: nicht normschön, mangelnde Sozialkompetenz, wenig Einfühlungsvermögen (also Empathie im eigentlichen Sinne), mangelnde Vaterfiguren, Minderwertigkeitsgefühle, schwere Lebensmittelunverträglichkeiten, unsportlich, psychologische Hemmungen…
Ja, Lebensmittelunverträglichkeiten. Ein Grund, über Leute zu lachen.
Die Darstellungen von männlichem Begehren, das ein mögliches Nein der Frau im Prinzip ignoriert, sind bei genauerem Hinsehen in der Popkultur in der Vergangenheit omnipräsent.
Ja, es kommt schon häufiger vor. Aber das ist auch ein Artefakt der Serienlogik oder der Filmlogik: wenn ein Paar schon am Anfang zusammenkommt, dann ist der Teil der Geschichte ja schon vorbei. Also, wenn bei HIMYM Ted die Mutter seiner Kinder schon in Staffel I kennengelernt hätte, hätte es nie acht davon gegeben. („Ähh, Mycroft, Du meinst wohl: ‚acht weitere‘, oder?“ – „Oder.“) Also dauert es IMMER, bis zwei zusammenfinden. Oder, sie sind von Anfang an zusammen.
Sie prägen eine weitverbreitete toxische Männlichkeit, in der Männer zum Beispiel nicht mit Frauen befreundet sein können, oder nicht über ihre Gefühle reden, und die überhaupt die Grundlage bildet für eine spätere Radikalisierung hin zum Incel.
Kein Mensch ist toxisch. Aber ja, auch wenn die Liebesgeschichten in solchen Geschichten von Timing und Pacing auf Staffelfinale und Showdown abgestimmt werden, dauert es im Richtigen Leben ja auch etwas, bis ein Paar ein festes Paar wird. Und für Leute, die einigermaßen in derselben „Liga“ wie die BBT-Jungs spielen, ist eine gewisse Hartnäckigkeit schon wichtig, um andere Schwächen zu kompensieren. Natürlich nicht so, dass man jaaahrelang derselben Frau hinterherweint. *seufz*
Viele aktuelle Serien wie beispielsweise „Adventure Time“ zeigen ein viel diverseres und vielschichtigeres Gesellschaftsbild und damit auch eine andere Sicht auf Männlichkeit.
Meint die das: Tante Wiki? Junge und Hund retten die Prinzessin samt Einhorn-Regenbogen, aber während Einhorn-Regenbogen und Hund eine feste Beziehung eingehen, wird der Junge von der Prinzessin gefriendzoned, möglicherweise, weil sie lesbisch ist. Kommt mir wie ein recht generischer Seifenopern-Plot vor, nur dass Hund und Einhorn-Regenbogen Menschen wären.
Neue männliche Protagonisten wie in den Serien „Sex Education“ oder „The End of the fucking world“ sind keine Übermänner,
Im krassen Unterschied jetzt zu Sheldon, oder wie? Aber mal sehen, Tante Wiki. Sex Education handelt von Sexualkunde, die praktische Version, okehe, und „The End of the Fucking World“ ist nicht etwa das nächste Zombie-Spektakel, sondern handelt von Mördern und Vergewaltigern. Dann doch lieber Sheldon, oder?
sondern sie zeigen ihre Unsicherheiten, sie sprechen über ihre Gefühle und zeigen damit, dass auch nicht-toxische Männlichkeit möglich und erzählenswert ist
Kein Mensch ist toxisch. Die Unsicherheiten der Jungs bei BBT werden lang und breit thematisiert, nicht nur von der Erzählung, sondern auch von ihnen SELBST. Bei The End of the fucking World kommt das Paar am Ende von Staffel zwei zusammen. Am Anfang wollte er sie ermorden. Gutes Vorbild für BEIDE Geschlechter. (Sorry, liebe diverse Leserschaft, ihr kommt da leider gar nicht drin vor…)
Edit 27/08/20: Tippsel und Formulierungen